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Moralgesetz

 

Im Folgenden veröffentlichen wir zwei Auszüge, die sich auf ethische Themen beziehen, aus dem Buch von Bodo Gaßmann:

Die metaphysischen und ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens. Resultate der kritischen Philosophie, Garbsen 2012.

Das Inhaltsverzeichnis, Abstrakt und weitere Informationen über dieses Buch können Sie einsehen unter: http://www.erinnyen.de/aktuelles/aktuell8.html

 

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(Der folgende Ausschnitt aus einem Exkurs, das Kapitel 24, gehört nicht zum Kernthema des Buches, stellt aber eine wichtige metaphysische Bestimmung dar als praktische Konsequenz aus der kantischen Philosophie. Gerade deshalb drucken wir ihn in den „Erinnyen. Zeitschrift für materialistische Ethik“ ab.)

Auszug aus Kapitel 24. (1. Teil) (Zum zweiten Teil)

Exkurs: Die metaphysische Begründung des Moralgesetzes als notwendige Ergänzung zur Gesellschaftstheorie

Der Maßstab der marxschen Ökonomiekritik

Der Beruf des Kapitalisten, und das gilt auch für die Manager, die den individuellen Kapitalisten in den großen Konzernen abgelöst haben und die allerdings waghalsiger sind, als es den Eigentümern oft lieb ist, für der Beruf des Kapitalisten gilt: „rückverwandelt möglichst großen Teil des Mehrwerts oder Mehrprodukts in Kapital. Akkumulation um der Akkumulation, Produktion um der Produktion willen (…). Wenn der klassischen Ökonomie der Proletarier nur als Maschine zur Produktion von Mehrwert, gilt ihr aber auch der Kapitalist nur als Maschine zur Verwandlung dieses Mehrwerts in Mehrkapital. Sie nimmt seine historische Funktion in bitterm Ernst.“ (Marx: Kapital I, S. 621) Technisch heißt dies: Produktion von Produktivität, da Akkumulation nur sinnvoll ist, wenn sie höhere Produktivität hat als vordem. Ein Kapitalist, der philanthropisch seinen Arbeitern wesentlich über den tariflichen oder üblichen Lohn hinaus zahlen würde, müsste Abstrich vom Mehrwert bzw. Profit machen, er könnte weniger Mehrwert akkumulieren, er könnte zumindest langfristig nicht mit der Produktivkraftentwicklung mehr mithalten und im Konkurrenzkampf, der in der Produktion ausgetragen wird, unterliegen. Bei Strafe seines ökonomischen Ruins muss er auf Profitmaximierung und Kapitalakkumulation drängen. Ökonomisch ist der oberste Zweck des Kapitals die Produktion von akkumulierbaren Mehrwert.

Ihm moralische Vorwürfe zu machen wie es heute in linksbürgerlichen und alternativen Kreisen üblich ist, ist illusionär, weil man die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise nicht ernst nimmt und idealistisch Verhältnisse unterstellt, die es gar nicht gibt. Marx macht dies Illusionäre einer moralisierenden Kritik am Beispiel der Getreidehändler in Frankreich zu seiner Zeit deutlich. Die Getreidehändler, an deren philanthropisches Gewissen appelliert wurde, „gingen sie etwa von der Idee aus, daß, weil das Publikum jetzt am meisten des Getreides bedürfte, es nun ihre Pflicht sei, ihm Getreide zu wohlfeileren Bedingungen abzulassen, oder stürzten sie nicht vielmehr auf die Bank, um das Steigen der Getreidepreise, die Not des Publikums, das Mißverhältnis seiner Nachfrage zur Zufuhr zu exploitieren? Und die Bank soll von diesem allgemeinen ökonomischen Gesetze ausgenommen sein? Quell idee!“ (Marx: Grundrisse, S. 55 f.) Die Bank diskontiert die Wechsel der Getreidehändler und verdient an der Knappheit des Getreides, das den Preis nach oben treibt, mit.

Alles Gerede davon, dass Lebensmittel kein Objekt der Spekulation sein sollen, blamiert sich an den Tatsachen des Marktes und seiner Gesetzmäßigkeit. Den unmittelbaren Wirtschaftssubjekten Unmoral vorzuwerfen, hat die gleiche abstrakte Gestalt, wie jeden Soldaten als Mörder zu bezeichnen, nur weil er Soldat ist. Eine solche moralisierende Bewertung sagt nichts über die Ursachen des Krieges aus, sowenig die moralisierende Kritik am Spekulanten etwas über das Wirtschaftssystem aussagt, dem die Moralisierer ebenfalls angehören, das sie in Gang halten, wenn sie leben wollen, und von dem sie abstrahieren, um sich ein gutes Gewissen zu verschaffen, das doch nur geheuchelt ist. Moralische Kritik an dem Verhalten der unmittelbaren Wirtschaftssubjekte, Kapitalist, Manager, Banker, Spekulant usw., aber auch Lohnarbeiter, ist bloß ein Moralisieren, d. h. eine moralische Kritik ohne Sachkenntnis. Dies ist einer der Gründe, warum in der Arbeiterbewegung Moral einen schlechten Ruf hat. Doch so einfach ist es mit der Moral nicht.

Kritisiert man die kapitalistische Produktionsweise, dann benötigt man einen Maßstab der Kritik, der außerhalb dieser Ökonomie liegt und der immer auch einen moralischen Aspekt hat. Kritisiert man den Kapitalismus nicht, dann erklärt man sein Einverständnis mit allem, was dieser hervorgebracht hat: Verelendung von Teilen der Bevölkerung, Permanenz der Kriege bis hin zu zwei Weltkriegen, man akzeptiert, dass man für das nationale Kapital krepieren soll, dass man Bombenkrieg ertragen muss, das Kriege um Rohstoffquellen, Handelswege und Absatzmärkte (Auftrag der Bundeswehr) geführt werden, man ist theoretisch hilflos gegenüber dem Massenmord in Vernichtungslagern und letztlich gegen die Eliminierung der Spezies Mensch durch einen Atomkrieg.

Ist man aber von einer kritischen Haltung und einem daraus folgenden kritischen Verhalten überzeugt, dann muss man einen Maßstab der Kritik begründen, der es erlaubt, die Scheußlichkeiten dieser Produktionsweise radikal zunächst mental, dann real zu negieren. Für Marx ist dieser moralische Maßstab, der seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ zugrunde liegt, die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen. Er kritisiert zunächst, dass die Arbeitenden (sogar die Organisatoren der Produktion und Distribution, siehe obiges Zitat: „der Kapitalist nur als Maschine“) zum bloßen Mittel der Kapitalproduktion werden. So erscheint das Kapital in der Bewegung als Geld – Ware – Geld plus Profit, „nicht nur als Mittel“, „sondern als Selbstzweck“ (Marx: Grundrisse, S. 144) Wenn aber das Kapital zum Selbstzweck wird, dann sind alle anderen Aspekte seines Kreislaufs bloße Mittel, so vor allem die unmittelbaren Produzenten und ihre Arbeitskraft. „Produktion von Mehrwert oder Plusmacherei ist das absolute Gesetz dieser Produktionsweise. Nur soweit sie die Produktionsmittel als Kapital erhält, ihren eignen Wert als Kapital reproduziert und in unbezahlter Arbeit eine Quelle von Zuschußkapital liefert, ist die Arbeitskraft verkaufbar.“ (Marx: Kapital I, S. 647) Die lebendige Arbeit, die für das Kapital den Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft darstellt, die der Arbeiter dem Kapital verkauft, ist „ein bloßes Mittel“, „um die vergegenständlichte tote Arbeit zu verwerten, mit belebender Seele zu durchdringen und ihre eigene Seele an sie zu verlieren“ (Marx: Grundrisse, S. 374). Die Produktivkräfte und die gesellschaftlichen Beziehungen „erscheinen dem Kapital nur als Mittel und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren“ (a. a. O., S. 602). Deshalb ist auch die freie Zeit der Lohnabhängigen ein Gegenstand der Vermarktung durch die Konsum- und Kulturindustrie.

Das aber soll nicht sein. Apagogisch wird auf das kontradiktorische Gegenteil geschlossen: Wenn die Arbeitenden (und letztlich die ganze Gesellschaft) nicht nur bloße Mittel der Kapitalproduktion sein sollen, ein der Vernunft der Gesellschaft gegenüber entfremdeter und unbeherrschbarer Mechanismus, dann ist der implizite und explizite Maßstab der Kritik die Selbstzweckhaftigkeit aller Menschen als anzustrebendes Ziel. Der Kapitalismus hat Produktivkräfte entwickelt, die den Menschen allgemein als Selbstzweck überhaupt erst ermöglichen. War in der Antike der Zweck der Arbeit die Befriedigung der Bedürfnisse, also Selbstzweck – allerdings in angemessener Form nur für wenige Reiche -, so ist dies durch den Stand der Produktion für alle möglich. „So erscheint die alte Anschauung, wo der Mensch, in welcher bornierten nationalen, religiösen, politischen Bestimmung auch immer als Zweck der Produktion erscheint, sehr erhaben zu sein gegen die moderne Welt, wo die Produktion als Zweck des Menschen und der Reichtum als Zweck der Produktion erscheint. In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgesteift wird, was ist der Reichtum anders, als die im universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sog. Natur sowohl wie seiner eignen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzungen als die vorhergegangne historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorhergegebnen Maßstab, zum Selbstzweck macht? (…) In der bürgerlichen Ökonomie – und der Produktionsepoche, der sie entspricht – erscheint diese völlige Herausarbeitung des menschlichen Innern als völlige Entleerung; diese universelle Vergegenständlichung als totale Entfremdung und die Niederreißung aller bestimmten einseitigen Zwecke als Aufopferung des Selbstzwecks unter einen ganz äußeren Zweck. Daher erscheint einerseits die kindische alte Welt als das Höhere. Andererseits ist sie es in alledem, wo geschloßne Gestalt, Form und gegebne Begrenzung gesucht wird. Sie ist Befriedigung auf einem bornierten Standpunkt; während das Moderne unbefriedigt läßt, wo es in sich befriedigt erscheint, gemein ist.“ (Marx: Grundrisse, S. 395 f.)

Aus der Entfremdung der bürgerlichen Verhältnisse kann man aber auch andere Schlüsse ziehen, so z. B. das Einrichten in der Befriedigung mit Surrogaten der Kulturindustrie, die „gemein“ sind; oder die Fortentwicklung zu einer Volksgemeinschaft mit faschistischem Staat, oder das, was heute im Gange ist, die Entwicklung zu einer Oligarchie der Vermögenden mit einer marktkonformen Demokratie; möglich wäre auch eine Ökodiktatur, die den Kapitalismus einschränkt, aber bestehen lässt usw. Eine andere bereits ausprobierte reale Möglichkeit ist der autoritäre Staatssozialismus oder bürokratische Kollektivismus, wie er im Osten bestand. Warum also eine Revolutionierung der Verhältnisse hin zu einem Sozialismus, in dem alle Individuen Selbstzweck sein können? Dieses Ziel der Entwicklung liegt nicht in den Gesetzen der Kapitalproduktion beschlossen, es muss von außen dazukommen, es ist eine Entscheidung, die aus der Vernunft begründet werden muss. Diese Begründung aus der Vernunft liegt in der kantischen Moralphilosophie vor, ihr Resultat ist der Kategorische Imperativ in seiner zweiten Gestalt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant: GMS, S. 61/BA 67) Dieses Moralgesetz, das zum Sittengesetz und damit ontologisch zum gesellschaftlich vorherrschenden Habitus werden soll, muss durch die Vernunft mit Notwendigkeit, d.h. nicht nur pragmatisch, sondern auch metaphysisch, begründet werden.

Warum Vernunft als Erkenntnisgrund?

Die erste Entscheidung zur Begründung eines allgemeinen Moralprinzips, das einmal zum Sittengesetz werden soll, ist die Wahl seines Erkenntnisgrundes: Soll das Moralprinzip aus der Natur des Menschen, seinen Gefühlen (Lust und Unlust), aus seinen Interessen, aus den empirischen oder strukturellen gesellschaftlichen Verhältnissen, also der sozialen Wirklichkeit, entnommen werden – oder soll es ein Prinzip der reinen Vernunft sein?
Die Natur des Menschen ist nicht ein für alle Mal gegeben, sondern sie ist als biologische Natur überformt durch Kultur, d. i. eine zweite Natur, die nicht nur historisch, sondern auch durch Ungleichzeitigkeit in einer Epoche geprägt ist, sodass sie nicht Grundlage eines allgemeinen Prinzips sein kann. Gefühle sind immer ambivalent, Lust gibt es nicht ohne gleichzeitige Unlust, wie schon Platon wusste (siehe 6.). Es ist kein konsistenter Grund eines Moralgesetzes. Da die gesellschaftlichen Verhältnisse durch Klassenantagonismen, allgemein durch Herrschaft, bestimmt sind, kann auch aus diesen Verhältnissen kein allgemein anerkennbares Prinzip begründet werden. Auch die Interessen, weil sie gegenseitig im Kampf liegen, können kein allgemeines Moralprinzip begründen. Nur ein vernunftbestimmter allgemeiner Willen kann kategorische Gesetze begründen. Denn wenn wir einen solchen allgemein-gesetzgebenden Willen „denken, so kann, obgleich ein Wille, der unter Gesetzen steht, noch vermittelst eines Interesses an dieses Gesetz gebunden sein mag, dennoch ein Wille, der selbst zu oberst gesetzgebend ist, unmöglich so fern von irgend einem Interesse abhängen; denn ein solcher abhängender Wille würde selbst noch eines andern Gesetzes bedürfen, welches das Interesse seiner Selbstliebe auf die Bedingung einer Gültigkeit zum allgemeinen Gesetz einschränkte.“ (Kant: GMS, S. 64/BA 72). Selbst das wohlverstandene Eigeninteresse, das die berechtigten Interessen der anderen einbezieht, kann nicht zum allgemeinen Sittengesetz taugen, weil in einer antagonistischen Gesellschaft die Interessen der gegnerischen Klasse nicht berücksichtigt werden können, ohne seine Interessen aufzugeben; in einer nichtantagonistischen Gesellschaft bliebe die Einbeziehung der berechtigten Interessen anderer, da diese von Individuen abhängen, immer eine zufällige Allgemeinheit, die nicht für alle verbindlich sein kann.

Eine theologische Begründung scheidet ebenso aus, da es keinen Gott gibt, alle Gebote Gottes also Menschenwerk sind, die heteronome Absicherung der Gebote als göttliche nur rhetorische Qualität hätte (vgl. Gaßmann: Entstehung). Auch die eigene Glückseligkeit, die doch jedermanns Pflicht ist anzustreben, kann kein allgemeines Prinzip des Handelns liefern. „Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfnis betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d. i. etwas, was sich auf ein subjektiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust und Unlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird. Aber eben darum, weil dieser materiale Bestimmungsgrund von dem Subjekte bloß empirisch erkannt werden kann, ist es unmöglich, diese Aufgabe als ein Gesetz zu betrachten, weil dieses als objektiv in allen Fällen und für alle vernünftigen Wesen eben denselben Bestimmungsgrund des Willens enthalten müßte.“ (Kant: KpV, S. 133/A 46) Im Umkehrschluss heißt dies, ein allgemeines Handlungsgesetz kann immer nur formal sein, wenn es für alle Handlungen (bis auf die Adiaphora) gelten soll. Konnte Aristoteles in einer Armutsgesellschaft noch Glückseligkeit allgemein bestimmen, aber nur indem er sie auf Geistiges reduzierte, so erlaubt die Entdeckung von vielen neuen Eigenschaften der Dinge und ebenso die Entwicklung von neuen Genüssen, die diese Eigenschaften gewähren, die auch massenhaft befriedigt werden können, ein sinnlich differenziertes Glück neben dem Genuss des Geistes. „Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem und demselben Subjekt auf die Verschiedenheit der Bedürfnis, nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjektiv notwendiges Gesetz (als Naturgesetz) ist also objektiv ein gar sehr zufälliges praktisches Prinzip, das in verschiedenen Subjekten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann, weil es, bei der Begierde nach Glückseligkeit, nicht auf die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich auf die Materie ankommt, nämlich ob und wie viel Vergnügen ich in der Befolgung dieses Gesetzes zu erwarten habe.“ (A.a.O., S. 133 f./A 46)
Es bleibt also nur die andere Alternative zur Bestimmung eines allgemeinen Moralprinzips, nämlich die Vernunft als Vermögen zu Ideen, also reinen Begriffen, die nichts Empirisches enthalten, aber gerade deshalb die empirischen Verhältnisse regeln könnten. Während der Verstand als Vermögen zu Begriffen in das Empirische verstrickt ist, kann sich die Vernunft als oberstes Erkenntnisvermögen aus dieser Verstrickung heraushalten. „Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letztere, als welche auf Objekte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurteilen.“ (Kant: KrV, S. 687/B 779) Lehnt man diesen Primat der Vernunft über alle Streitigkeiten ab, dann ist Vernunft nur in unvernünftiger Form gegeben oder sie bestimmt wie im Empirismus nur die Mittel der Handlungen und der Glückseligkeit. Das aber ist ein Zustand des Krieges, in welcher offenen oder verdeckten Form er auch geführt wird. Ohne die Kritik der Vernunft „ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur, und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anderes geltend machen, oder sichern, als durch Krieg. Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeiten nicht anders führen, als durch Prozeß.“ (Ebda.)

Die Alternative zum avancierten Stand der Vernunft ist der „Naturzustand“, wie ihn Hobbes beschrieben hat als Krieg eines jeden gegen jeden. Zwar ist dieser „Naturzustand“ ein theoretisches Konstrukt, doch beschreibt er die bürgerliche Gesellschaft, wenn sie nicht durch Gesetze und eine staatliche Macht eingeschränkt ist. „Auch nötigen die endlosen Streitigkeiten einer bloß dogmatischen Vernunft, endlich in irgendeiner Kritik dieser Vernunft selbst, und in einer Gesetzgebung, die sich auf sie gründet, Ruhe zu suchen; so wie Hobbes behauptet: der Stand der Natur sei ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit, und man müsse ihn notwendig verlassen, um sich den gesetzlichen Zwange zu unterwerfen, der allein unsere Freiheit dahin einschränkt, daß sie mit jedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne.“ (A. a. O., S. 688/B 780) Der Fehler von Hobbes und Kant ist, dass dieser gesetzliche Zustand in antagonistisch verfassten Verhältnissen selbst nur eine andere Form des Naturzustandes ist, „ein Stand des Unrechts und der Gewalttätigkeit“, in dem das Unrecht lediglich gesetzlich stillgestellt ist; so z. B. schützt das Eigentumsrecht die Konsumgegenstände der Menschen vor Diebstahl, den großen Diebstahl der kostenlosen Aneignung des Mehrwerts jedoch sanktioniert das Eigentumsrecht und sichert es mit staatlicher Gewalt ab.

Die Alternative, Krieg oder avancierte Vernunft, spitzt sich zu, indem sie die Alternative stellt: Herrschaftlich verfasste Gesellschaft und damit permanenter Krieg – oder Abschaffung der Herrschaft und Geltung des Moralgesetzes. Die Forderung nach einem vernünftigen Moralprinzip ist damit nicht erledigt, sondern stellt sich erst in der richtigen Form, nämlich nach der Möglichkeit eines ewigen Friedens, der nur durch die Negation von Herrschaft und unter der Bedingung eines Moralgesetzes zu haben ist. „Was die Händel in dem ersten Zustande endigt, ist ein Sieg, dessen sich beide Teile rühmen, auf den mehrenteils ein nur unsicherer Friede folgt, den die Obrigkeit stiftet, welche sich ins Mittel legt, im zweiten aber die Sentenz, die, weil sie hier die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft, einen ewigen Frieden gewähren muß.“ (A. a. O., S. 688/B 779 f.)

Das Moralprinzip ist keine Ideologie der kapitalistischen Klassengesellschaft, nur weil es nach Kant über den Interessen steht, um diese regeln zu können, aber dadurch allererst die Interessengegensätze bestätigt, wie Paschukanis meint (Paschukanis: Rechtslehre, S. 139), sondern auf der Grundlage der Kritik der bürgerlichen Ökonomie durch Marx wird es ein entscheidender Grund zur Revolutionierung der antagonistischen Verhältnisse. Oder negativ formuliert: Ohne die Zugrundelegung eines allgemeinen Moralprinzips bleibt jede Veränderung in der dogmatischen Vernunft, im Interessenkampf, in den subjektiven Leidenschaften und in den verschiedenen Glücksansprüchen verstrickt und befangen – oder wie Marx es drastisch ausgedrückt hat, die alte Scheiße wird nur in neuem Gewand weiterbestehen. Wer also gegen die heute überflüssige Herrschaft ist, muss die Vernunft als Leitendes annehmen, wer ewigen Frieden will, muss für ein Moralprinzip sein, wer aber für ein Moralprinzip ist, muss dies mit Notwendigkeit begründen. Ohne notwendige Begründung hätte es keine Verbindlichkeit für alle Menschen, wäre also selbst nur ein Mittel des Kampfes partikularer Interessen.

Die vernünftige Begründung des Moralprinzips

Das Moralgesetz oder das „moralische Gesetz“ (KpV, S. 108 Anm./A 5) oder „Grundgesetz“ (a. a. O., S. 140/A 54), das Kant meist als „Sittengesetz“ (a. a. O., S. 142/A 57) bezeichnet, lautet bei Kant:
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kant: KpV, S. 140/A 54)
Verbindlichkeit kann nur ein allgemeines und notwendiges Moralgesetz beanspruchen. Insofern ergibt sich diese Bestimmung selbst aus dem Zweck des Moralgesetzes, nämlich dass es „allein unsere Freiheit dahin einschränkt, daß sie mit jedes anderen Freiheit und eben dadurch mit dem gemeinen Besten zusammen bestehen könne.“ (Kant: KrV, S. 688/B 780) Nur eine „allgemeine Gesetzgebung“ kann die Freiheit der Menschen untereinander regeln als Gesetz ihrer Freiheit.

Jede empirische Handlung hat es mit sinnlich konkreten Objekten, Zwecken und Absichten zu tun, solche Handlungen können nicht verallgemeinert werden. Deshalb kann ein allgemeines Moralgesetz auch nur die „bloße Form des Gesetzes“ sein (KpV, S. 141/A 55). Zwischen der allgemeinen Form der Gesetzmäßigkeit und der nicht verallgemeinerungsfähigen Handlungen stehen die Maximen. Die Maximen der konkreten Handlungen sind das Vermittelnde zwischen empirischen Handlungen und allgemeiner Form des Gesetzes. Sie sind subjektiv, insofern sie die Regel für empirische Handlungen sind, sie sind aber als Regeln schon in der Form der Allgemeinheit, z. B. die Maxime: „Ich belüge immer meine Mitmenschen.“ Als allgemeine subjektive Regel in konkreten Handlungssituationen können Maximen darauf hin überprüft werden, ob sie zu einer allgemeinen Regel, die für alle taugt, fähig sind. Das Beispiel wäre nicht tauglich, denn, wenn alle lügen, bräche die Kommunikation in einer Gesellschaft zusammen, sie könnte nicht existieren. Die Freiheit der Menschen wäre auf dem körperlichen Kampf um die Subsistenzmittel restringiert. Das Moralprinzip, das die Handlungen in einer Gesellschaft kompatibel machen soll, das die Freiheit nur soweit einschränken soll, dass die Freiheit eines jeden mit der Freiheit der anderen nach einem allgemeinen Gesetz bestehen könne, wäre nicht möglich. Also ist die Maxime, immer zu lügen, nicht zu einem allgemeinen Gesetz tauglich, also unmoralisch.

Wenn man akzeptiert, und ich habe dafür mit Kant zwingende Gründe genannt, dass ein Moralgesetz allein aus Vernunft zu begründen ist, dann ist dieser Kategorische Imperativ (unbedingte Befehl), der für alle Sinnenwesen gilt, die auch noch andere Antriebe haben, eine notwendige Regel für das Zusammenleben der Menschen, die einen ewigen Frieden garantieren könnte. Kant nennt dieses Moralprinzip denn auch ein „Faktum der Vernunft“ (KpV, S. 141/A 56). Frank Kuhne hat diesen Ausdruck kritisiert: „Der Ausdruck ‚Faktum der Vernunft‘ ist äquivok. Er bezeichnet zum einen die Art, wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes für ein empirisches Subjekt ist: Es findet dieses Bewußtsein faktisch in sich vor, sobald es Maximen entwirft. Er bezeichnet zum anderen, daß man dieses Bewußtsein ‚nicht aus vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (…), herausvernünfteln‘ oder ableiten kann. In der ersten Bedeutung beschreibt er eine Erfahrung, von der Kant behauptet, daß sie jedermann geläufig ist. Die drastischen Beispiele sollen diese Erfahrung illustrieren. In der zweiten Bedeutung beschreibt er keine Erfahrung, sondern ist gewissermaßen eine transzendentale Reflexionsbestimmung des moralischen Bewußtseins, die besagt, daß die Geltung des moralischen Gesetzes nicht bewiesen, das Gesetz nicht deduziert werden kann.“ (Kuhne: Transzendentalphilosophie, S. 145)

Die zweite Bedeutung, dass dies Moralgesetz nicht ableitbar ist, ergibt sich schon daraus, dass es jeder Begründung vorausgesetzt ist. So wie Aristoteles argumentiert, der Satz vom zu vermeidenden Widerspruch sei keines direkten Beweises fähig, weil jeder Beweis den Satz immer schon voraussetzt, so könnte Kant argumentieren, das Moralprinzip ist jeder wissenschaftlichen Argumentation immer schon vorausgesetzt in der wissenschaftlichen Maxime, dass Wahrheiten herauszufinden sind, d. h. eine Maxime, die dem Moralgesetz entspricht, also zu einem allgemeinen Gesetz taugt. Wollte man als Maxime behaupten, die Wissenschaft solle Unwahrheiten produzieren oder gar keinen Wahrheitsbegriff haben, wie einige verrückte Pragmatisten sagen, dann würde eine technische Zivilisation, die auf wahre Wissenschaft als ihre Existenzbedingung angewiesen ist, zusammenbrechen. Wollte jemand die Maxime aufstellen und anwenden, Falsches zu produzieren, dann stellte er sich außerhalb der Gemeinschaft der Gelehrten wie die Poststrukturalisten u. a. Insofern ist das Moralprinzip tatsächlich ein Faktum der Vernunft oder ein notwendiges Prinzip des vernünftigen Denkens, das nicht selbst wieder begründet werden kann, da es jeder rationalen Begründung vorausgesetzt ist. Es lässt sich deshalb wie das aristotelische Widerspruchsprinzip nur apagogisch aus der Widerlegung des kontradiktorischen Gegenteils begründen, indem seine Nichtgeltung unmöglich angenommen werden kann, wenn man wahre Wissenschaft betreiben will.

Doch es gibt noch andere Einwände gegen das kantische Moralgesetz, deren Bestätigung oder Kritik weitere Aspekte dieses Gesetzes zum Ausdruck bringen oder deren Widerlegung apagogisch das Gesetz begründet.

Einwände gegen das kantische Moralgesetz

Das Moralgesetz ist nicht empirisch beweisbar

Kant gibt an, das Moralgesetz auch positiv beweisen zu wollen (KpV, S. 140/A 54) – dies widerspricht seiner richtigen Formulierung, es sei ein Faktum der Vernunft, also keines positiven Beweises fähig (a. a. O., S. 141/A 56). Nun ist der Grund von empirischen Handlungen nie eindeutig, ob er aus Vernunft oder aus anderen Gründen wie den Sinnen oder den Interessen usw. folgt. Darauf beruht das stärkste Argument des Utilitarismus gegen jede Art Vernunftmoral. d’Holbach will dies am Konflikt von zwei sinnlichen Antrieben zeigen: „Tatsächlich bestimmte mich der Durst, bevor ich wußte, daß das Wasser vergiftet sei, ebenso notwendig zum Trinken, wie diese neue Entdeckung mich notwendig dazu bestimmt, nicht zu trinken; dann wird der ursprüngliche Antrieb, den der Durst meinem Willen gab, durch den Selbsterhaltungstrieb zunichte gemacht oder aufgehoben; der zweite Beweggrund wird stärker als der erste; die Furcht vor dem Tode siegt notwendig über die unangenehme Empfindung, die der Durst mir verursachte. Aber (…) wenn der Durst sehr stark ist, wird es ein unvorsichtiger Mensch ohne Rücksicht auf die Gefahr dennoch wagen, dieses Wasser zu trinken; in diesem Fall wird der erste Antrieb das Übergewicht haben und ihn notwendig handeln lassen, weil er stärker ist als der zweite.“ (d’Holbach: System, S. 160) Was bei  welchem Individuum in welcher Situation als Beweggrund, ob Durst oder Selbsterhaltungstrieb, wirkt, ist nicht entscheidbar. Die Lösung von d’Holbach, einen Determinismus anzunehmen, ist ebenfalls keine Lösung, da er sich selbst widerspricht: Er negiert die Willkür bzw. den freien Willen, der jeder wahren Aussage, also auch der, dass der Determinismus wahr ist, vorausgesetzt sein muss. Wenn es nicht empirisch entscheidbar ist, dann kann auch kein empirischer Beweis für den einen oder den anderen Beweggrund geliefert werden, also ist auch kein empirischer Beweis dafür möglich, ob das vernünftige Moralgesetz oder Bedürfnisse und Interessen die Handlung bestimmen, denn bei einem Sinnenwesen sind letztere immer mit im Spiel (vgl. zu den kantischen Beispielen und der ganzen Problematik Till Streichert: Freiheit, S. 54 ff.)

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Letzte Aktualisierung: 09.07.2012

 

09.07.2012