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Privatgelehrter

Privatgelehrter

Bodo Gaßmann

Versuch über den Privatgelehrten
(erster Teil)


(zum zweiten Teil)

Ich hân mîn lêhen
mir ist mîner swære buoz
muos niht singen vor fürsten unde pfaffen
zwo zungen stânt unebne in einem munde
uns dunket einez was gelogen
(Frei nach Walter von der Vogelweise)


Der Privatgelehrte ist ökonomisch unabhängig. Die erste Freiheit der Wissenschaft im Kapitalismus ist es, kein Gewerbe zu sein. Diese Freiheit nimmt sich der Privatgelehrte, von wem oder wodurch immer sein Lebensunterhalt finanziert wird. Er hat es nicht nötig, seine Reputation durch einen Doktortitel zu steigern, um Professorenstellen zu konkurrieren, er braucht nicht vom Verkauf seiner Bücher zu leben, für ihn gilt nicht publish or perish, um seine Reputation außerwissenschaftlich zu stärken. Der Privatgelehrte muss sich nicht der neoliberalen Ökonomisierung der Wissenschaft, d. h. ihrer Zerstörung, aussetzen, er schaut zwar mit Entsetzen auf die intellektuelle Dekadenz der Vernunft an den Universitäten und den irrationalen Wissenschaftsbetrieb, aber von diesem Entsetzen muss er sich nicht übermannen lassen. Er hat seine Wut sublimiert, indem er sie ausdrückt („Ein Gott gab mir zu sagen, wie ich leide.“ Tasso in Goethes gleichnamigem Stück.) Für die Politiker, die Universitäten in Lernfabriken und Stätten der Produktion verwertbaren Wissens umwandeln wollen, in denen nicht das Ideal der Wahrheit und Bildung, sondern das Profitinteresse der Manager gilt, hat er nur Verachtung übrig. Er nimmt sich die Freiheit zur Kontemplation und Reflexion, er beschäftigt sich mit dem, was heute freie Künste genannt werden könnte, also Wissenschaften, die nicht dem Erwerbsleben dienen, sondern Wissen um des Wissens willen anstreben, wie Philosophie in ihrem Weltbegriffe, die sich mit den letzten Zwecken beschäftigt, ja er geht soweit, Erkenntnisse als Selbstzweck zu suchen, als Spiel schöner, weil wahrer Begriffe – denn er weiß, dass die Wahrheit schon ihre Praxis finden wird. Eine Praxis, die nicht mit Erfolg zu verwechseln ist, der immer nur der partikularer Interessen ist, sondern den moralischen Aspekt, d. h. die notwendige Veränderung dieser Gesellschaft, in der ein Mensch ein verächtliches Wesen ist, einschließt.
Der Privatgelehrte hat das Privileg, sich von den Herrschenden und ihrer anonymen Machtausübung fernzuhalten. Vielleicht hat er einmal seine Arbeitskraft verkauft, um Leben zu können, jetzt ist er dem enthoben. In die Herrschaft des Kapitals ist er nur noch insoweit verstrickt, als er seine Lebensmittel kaufen muss, also den in den Waren inkarnierten Mehrwert für das Kapital realisieren hilft. Das aber kann er nicht vermeiden, wenn er leben will, er kann es sich nur bewusst machen als Verstrickung ins falsche Ganze. Als Rentner oder Pensionär (vielleicht auch durch einen Mäzen) bezieht er ein Salär – und er weiß, dass die Mehrwertproduzenten, die keine Stimme haben, ihn alimentieren. Das ist seine einzige soziale Verpflichtung, die er noch hat, für die Stimmlosen, die ihn ohne es zu wissen unterhalten, zu denken und zu reden, insofern diese Nicht-denkenden objektiv das Allgemeine wollen müssen, das dereinst die Trennung zwischen Denkenden und Arbeitenden aufheben wird.
Eine soziale Bewegung muss auf einer wahren Theorie beruhen, sonst kann sie ihre selbstgesteckten Ziele nicht erreichen, sie würde in den bestehenden Kräfteverhältnissen etwas anderes befördern, als sie bezweckte. Eine Theorie ist niemals „wertfrei“, sondern ist an allgemeine Interessen gebunden wie die Naturbeherrschung oder die Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft. Deshalb hat man die „Einheit von Theorie und Praxis“ in der sozialistischen Arbeiterbewegung gefordert. Unter dieser Losung aber wurde die Theorie zum Anhängsel der jeweiligen Parteidoktrin, sie unterlag Denkverboten und Dogmatisierungen, die spannungsvolle Einheit wurde also zugunsten der Praxis aufgehoben. Indem aber die Theorie zum Propagandaanhängsel der Partei wurde, konnte sie gerade das nicht leisten, was von einer Theorie verlangt wird: ein Selbstbewusstsein über die Praxis zu schaffen. Sie machte dadurch die eigene Praxis blinder, als sie hätte sein können. So war in der Sowjetunion noch nicht einmal der Standard der bürgerlichen Gesellschaft, das humboldtsche Universitätsmodell möglich, das die Wissenschaftler zwar finanziell durch den Staat absicherte, ihnen aber dennoch die Wissenschaftsfreiheit garantierte. (Ein Modell übrigens, das durchaus systemkritische Wissenschaftler qua Berufung auf Lehrstühle meist ausschloss, seit seinem Bestehen auch zur unkritischen Anpassung ans Bestehende bei den Professoren führte und dennoch gerade zerschlagen wird.) Der Privatgelehrte weiß dies, er pocht deshalb nicht nur auf seine finanzielle Unabhängigkeit, sondern auch auf die Selbstständigkeit gegenüber den sozialen Bewegungen und Parteien, denen er nahesteht. Er weiß, dass die Selbständigkeit der Theorie das Interesse von Praxis selber ist. Ohne eine Theorie auf dem avancierten Stand der Vernunft reduziert sich das Theoretische auf Weltanschauung, die Praxis auf ein Herumwurschteln im Kräfteparallelogramm der kapitalistischen Gesellschaft, in der doch immer als Resultante der Mechanismus der Mehrwertökonomie sich durchsetzt. Der Privatgelehrte ist sich bewusst: „Heute, da der allherrschende Betrieb Theorie lähmt und diffamiert, zeugt Theorie in all ihrer Ohnmacht durch ihre bloße Existenz gegen ihn. Darum ist sie legitim und verhaßt; ohne sie könnte die Praxis, die immerzu verändern will, nicht verändert werden. Wer Theorie anachronistisch schilt, gehorcht dem Topos, was als Vereiteltes weiter schmerzt, als Veraltetes abzutun.“ (Adorno: Negative Dialektik, S. 147)
Der Privatgelehrte wird durch die bürgerliche Presse verhöhnt als Eigenbrötler, er habe nicht viel zu melden, seine obskuren Spezialitäten seien im modularen Studiensystem nicht gefragt, er sei ein brotloser Künstler, der keine Macht habe, jemand, der in sich versunken sei, als Beschwörer der Einsamkeit, als unfähig, sein Dasein als Ich-AG zu führen, als Mensch, der kein Talent zur Selbstvermarktung habe. Von der Geschichte des kapitalistischen Fortschritts überrollt worden zu sein, gehöre zu seiner geistigen Physiognomie. Doch man unterschätze die Macht des Geistigen nicht. Philosophische Gedanken wirken nur und sind nur verständlich durch den sanften Zwang des Arguments (Aristoteles), mit Macht durchgesetzt (wie curricularer Zwang, Prüfungsmacht usw.) werden sie unverständlich, deshalb können sie auch von den Opportunisten der Macht nicht verstanden werden. Letztlich waren alle großen Philosophen bis in die frühe Neuzeit hinein Privatgelehrte (Platon und Aristoteles hatten ein Vermögen, von dem sie lebten, Descartes lebte von seinem Erbe, Spinoza hatte ein anständiges Handwerk, das ihm seine Unabhängigkeit garantierte). Der Privatgelehrte Karl Marx, alimentiert durch seinen Freund Friedrich Engels, hat mit seiner Theorie des Mehrwerts das bestehende Falsche ins Wanken gebracht. Vielleicht kommt ein neuer Privatgelehrter und bringt es zu Fall. Nicht jeder Privatgelehrte wird wie Nietzsche verrückt oder wie der Dichter Hölderlin zum Narren, nicht jeder zum Märtyrer wie Walter Benjamin.
Der Privatgelehrte sollte auch kein Mister Pickwick sein, eine Romanfigur bei Dickens, die durch England zieht und alles noch einmal neu entdeckt, was andere längst herausgefunden haben.
Der Privatgelehrte forscht und schreibt nicht um des Nutzens willen in dem Sinne, wie dies ein Ingenieur tut, der ein Bauwerk errichtet. Der Privatgelehrte macht zwar allgemeine Arbeit, aber ob die Klassengesellschaft oder die in ihr, die seine Erkenntnisse brauchen könnten, die Lohnabhängigen, seine Erkenntnisse abrufen, ist für ihn zwar nicht unwichtig, aber zweitrangig. Er erfreut sich daran, Wahrheiten erkannt zu haben, dies ist zwar nicht genug, aber als Lohn reicht es allemal. Denn Wahrheiten kann man nicht widerlegen, wie schon Platon wusste. Wenn andere sie zur Kenntnis nehmen – umso besser, aber angewiesen ist er auf das Bedürfnis der anderen nach Erkenntnis nicht. Er ist autark und aufgrund dieser Autarkie kann er es sich leisten, geistig autonom zu sein. Wissen hat für ihn auch einen selbstgenügsamen Aspekt.
Von Kierkegaard stammt das Bild von dem leidenden Künstler. Dieser ist in einem Stier aus Eisen eingesperrt. Der brutale Herrscher lässt unter dem Stier ein Feuer anzünden. Indem der Künstler sich verbrennt, stößt er Schreie aus, die durch die Nüstern des eisernen Stiers nach draußen dringen und sich anhören wie süße Flötentöne. Der Künstler im Bauch des eisernen Stiers ist der an den Verhältnissen leidende, sensible Mensch, er sieht das Leid auf der Erde, die Unterdrückung und Ungerechtigkeit, den Snobismus der Vermögenden und den Opportunismus der Kleineigentümer wie die Verblendung der Volksgemeinschaft. Aus seinem Leid aber schafft er schöne Kunst. Das Eiserne ist die verhärtete Gesellschaft und das Feuer unter dem Stier halten die Herrschenden in Gang, die auch nur Charaktermasken ihrer selbst erzeugten Mechanismen sind. Die süßen Flötentöne sind dann die schönen Künste, die Belletristik und die anmutigen Gestalten der Bildhauerei. Aber die autonome Kunst ist heute selbst nicht mehr schön, wenn sie denn autonom ist und nicht an ihrer Verkäuflichkeit ausgerichtet wird. Sie sieht das Leben mit negativem Blick und – um im Bild zu bleiben – ihre Stimme, die aus den Nüstern dringt, ist schrill geworden, sodass die Masse, die sie verstehen sollte und sie benötigt, sich von ihr abwendet.
Der Denker aber, der nicht ständig grübelt und in sein Selbst versunken ist wie bei Rodin, ist derjenige, der wie Kierkegaard das ganze Bild überblickt - auch seine Entwicklung. Er erkennt die gegenseitigen Abhängigkeiten: den eisernen Stier wie das Feuer als ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, den es zu durchschlagen gilt. Derart spricht der Privatgelehrte seine Einsichten aus, um sie denen zukommen zu lassen, die sie brauchen, damit sie dem permanenten Feuer einst entgehen können.
Der Privatgelehrte hat sich eine Aufgabe gestellt – bedingt durch Neigung, langjährige Berufserfahrung, gesellschaftliche Umstände usw. Diese Aufgabe ist das Denken, das kann er am besten, also wird er sich auf diese Aufgabe konzentrieren. Es gibt eine Menge interessanter Dinge wie spanische Literatur, neueste Erkenntnisse der Astronomie, Jagen in Afrika, Musik, Wohnprojekte, politische Arbeit, damit kann man sich beschäftigen und es ist keinem Übel zu nehmen, wenn er sich dafür engagiert. Um aber etwas zustande zu bringen, muss man sich für etwas Bestimmtes entscheiden und seine Kraft nicht nach vielen Seiten hin zersplittern. Es gehört zur Bildung der eigenen Person, sich nicht in zufällige Verlockungen zu verzetteln, alles Mögliche einmal auszuprobieren (das ist ein Vorrecht der Jungen), sondern seiner einmal eingeschlagenen Berufung zu folgen. Dies ist bei dem Privatgelehrten die Theorie, die nicht erst sei Kant nur noch den „kritischen Weg“ einschlagen kann, wie Sokrates demonstriert hat, der dafür mit dem Leben büßte. Für ihn war die Gemeinschaft der freien Bürger, die Polis, ein träges Pferd, das gestochen werden musste, damit es galoppiert. Der Galopp sollte in Richtung von Einsicht und humanem Fortschritt gehen, der kritische Intellektuelle war die Bremse, die das träge Pferd stach, indem er jeden Einzelnen fragte, ob er sich mehr um Geld und Wohlstand kümmerte oder um eine gute Seele. Da dieser Begriff heute „obsolet“ geworden ist, kaum noch verstanden wird, muss man den Begriff einer guten Seele an einem Beispiel erläutern. Ich fuhr einmal mit einem jungen Mann im Auto, der mit seiner neuen Stereoanlage prahlte. Gefragt, ob er etwas von Musik verstehe, musste er dies verneinen. Das ist ein Beispiel für den Stand der Seele, wo Geld zu verdienen, um sich sinnlosen Konsum zu leisten, wichtiger ist, als mit Sachwissen und philosophischen Einsichten der eigenen Seele ein Fundament zu geben. Erst wenn man die Negativität der Musik etwa eines Schönberg verstanden hat und hören kann, ist der neueste Stand der Lautsprechertechnik eine sinnvolle Anschaffung. Der Privatgelehrte hört in den harmonischen Klängen der Pop-Industrie, die dieser junge Mann vermutlich bevorzugte, die Absicht heraus, die Arbeitenden bei der Stange zu halten, damit sie am Montag wieder freudig Leistung bringen und das Negative der Gesellschaft durch ihr eingeübtes Harmoniebedürfnis in sich blockieren. So dringen sie nicht zum Begreifen der gesellschaftlichen Realität vor. 
Der negative Blick äußert sich schon dadurch, dass der Privatgelehrte Unterschiede in der Wirklichkeit erkennen will, Unterschiede aber haben die Form des negativen Urteils: A ist nicht B. Spricht ein Manager von seinen Mitarbeitern, dann erkennt der Privatgelehrte den Unterschied von Lohnabhängigen und Kapitaleignern, zu denen die Manager zuzuschlagen sind. Spricht eine Kanzlerin von „wir Deutsche“, dann erkennt er den Unterschied zwischen der herrschenden Klasse und denen, die nur ihre Arbeitskraft auf dem Markt anbieten können, um zu überleben. So ist die negative Sicht auf die Verhältnisse die conditio sine qua non, um in dieser Gesellschaft nicht das Bewusstsein sich vernebeln zu lassen und um  nicht unterzugehen. Die Logik aber des negativen Blicks ist die negative Dialektik.
Zwei Nachteile oder Gefahren hat die Stellung als Privatgelehrter – oder besser: zwei Gefahren muss er umgehen. Seine Urteilskraft, das Subsumieren von Gegenständen unter ein Gesetz oder eine Regel, kann nicht gelehrt, auch nicht angelesen werden, sondern nur geübt werden, ein Leben lang. Der Privatgelehrte bedarf deshalb einer Kontrolle, die er nur schwer selbst ausüben kann, wenn er nicht bereits geübt im Denken ist. (Von anderem wird er sie kaum bekommen, weil andere – sei es aus Bequemlichkeit, sei es als Mangel an Kenntnissen – entweder nur begeistert zustimmen oder schroff, d. h. ohne Argumente, ablehnen.) Wenn man als Reaktion auf seine Argumentation zu hören bekommt, das sei veraltetes Denken, dann ist der Gegenüber meist ein Hohlkopf, im raffinierteren Falle ein Ideologe, der weiß, dass er Ideologie verbreitet.
Da man die Urteilskraft nicht lehren, sondern nur einüben kann, Kant hält sie deshalb für eine „Naturgabe“, hat sich unter dem Schlagwort „Selbstdenken“ ein wilde Art zu spekulieren breit gemacht, die bei gymnasialen Fachleitern der Philosophie ein Schenkelklopfen auslöst, wenn darin nur eine gewisse Raffinesse liegt. Ein solches „Selbst-Denken“ ist aber, da es souverän die logischen Regeln ignoriert, widersprüchlich. Ein Denken aber, das sachliche Widersprüche akzeptiert, zerstört sich selbst, es hätte ein so vielfältiges Bewusstsein, wie es Sachen denkt, und ist dadurch kein identisches Bewusstsein mehr, im Extremfall ist es weniger als ein Mythos und – wenn sich ein solches Denken auf den Alltag ausweitet – psychopathologisch. Mit einem Wort: Widersprüchliche Bestimmungen der Sache zerstören die Ich-Identität. Und ein solches wildes Denken hat kein Selbst mehr – ist also das Gegenteil von „Selbstdenken“, sondern fremde Sachen, die widersprüchlichen Verhältnisse, denken in ihm und zerstören sein Bewusstsein, also sein spezifisches Menschsein. Was darin raffiniert ist, bleibt ein gehaltloses Klappern. Dieser Gefahr kann der Privatgelehrte nur entgehen, wenn er seine Urteilskraft bereits an Gegenständen geschult hat, Lebenserfahrung gewonnen hat, die nicht im sinnlich Konkreten verharrt, sondern zu vernünftigen Verallgemeinerungen gekommen ist, und die harte Berufswelt ohne gravierende deformation professionell überstanden hat, also auch kein allzu junger Mensch mehr ist.
Die zweite Gefahr, der sich ein Privatgelehrter aussetzt, ist mehr ökonomischer Art, liegt also kaum in seiner Macht. Gegen das Hauslehrertum im 18. Jahrhundert hat Lenz in seinem „Hofmeister“ zurecht eingewandt, dass es zwar Bildung für einige Kinder reicher Eltern hervorbringe, aber die öffentlichen Schulen den minderwertigen Lehrern überlasse, die wie in seiner Satire ausgediente Soldaten waren, die lateinische Sprüche klopften, aber z. T. noch nicht einmal lesen und schreiben konnten. Gegen den Privatgelehrten lautet deshalb der Vorwurf, er halte seine Talente, seine Kenntnisse und sein Denken den öffentlichen Bildungsstätten, insbesondere den Universitäten vor und ziehe sich auf das Schreiben von Büchern zurück, denen die öffentliche Resonanz der Universitäten fehle, zumal diese nur jemand aus ihren Reihen und auch nur mit akademischem Titel anerkennen, Außenseiter ihrer Zunft aber ignorieren. Schopenhauer und Nietzsche sind Beispiele dafür aus dem 19. Jahrhundert, Walter Benjamin und Karl Heinz Haag aus dem 20. Jahrhundert, deren Werk zunächst nicht von den Akademikern rezipiert wurde und bei Benjamin unter anderen Umständen erst nach ihrem Tod öffentlichkeitswirksam in Erscheinung trat. Dieses Argument besteht zu Recht, es hängt aber nicht nur vom Privatgelehrten ab.
Hatte Marc Aurel als römischer Kaiser noch vier philosophische Lehrstühle in Athen finanziert (Akademie, Peripatos, Stoa und Epikureer), sodass alle wichtigen Richtungen vertreten waren, so verschwinden heute an Marx orientierte Philosophen von den Lehrstühlen – sei es, dass sie (die einstigen 68er) aus Altersgründen emeritiert werden, sei es, dass Neubesetzungen mit modischen Fachgebieten wie etwa die Hirnforschung oder eine aufs Mathematische reduzierte Wissenschaftstheorie belegt werden, die dem wissenschaftlichen Bewusstsein kaum Neues zuführen, die ohne Selbstdenken sind – bis hin zu Scharlatans-Wissenschaften, die beständig den freien Willen des Menschen bestreiten, den sie doch bei jedem Satz, den sie schreiben - ob wahr oder falsch –, aktualisieren. Unter einem solchen intellektuellen Klima, das neoliberale Politiker und ihre willigen Vollstrecker unter den Universitätsprofessoren erzeugt haben, hat der Privatgelehrte, der nur der Wahrheit verpflichtet ist, kaum eine Chance, ohne intellektuelle Verbiegung an den öffentlichen Anstalten zu lehren. Selbstverständlich gelten an den Universitäten die akademischen Regeln, dass jede Position durch ihre Argumente bestehen muss, dass sie sich im Streit der Meinungen behaupten soll, dass also auch der Privatgelehrte sich einbringen kann und dann werde sich schon zeigen, ob seine Argumente überzeugen. Doch diese ideale Kommuniktionssituation ist eine Illusion – unter dem Schein rationaler Prüfung von Argumenten setzt sich letztlich das ökonomische Interesse an einer unkritischen Wissenschaft durch, d. h. einer Wissenschaft, die nicht das System aus Ökonomie und Wissenschaftspolitik angreift (während Kritik an der Verbesserung des Bestehenden, d. h. der privaten Kapitalakkumulation, weiter erwünscht bleibt). Es ist auch deshalb eine Illusion, weil die verschiedenen philosophischen Richtungen untereinander kaum diskutieren, sondern sich gegenseitig isolieren, denn da es ihnen schon lange nicht mehr um Wahrheit (mit Ausnahme von Detailwissen, von Tatsachen) geht, ist diese Kommunikation auch nicht mehr nötig. Der stillschweigende Auftrag des Systems, dem sie dienen, lautet, für jede Denkrichtung, jede philosophische Sackgasse, jede Spinnerei, etwas zu bieten, den Schein von Neuem aufrechtzuerhalten, das Wesentliche auf Unwesentliches zu reduzieren und so die eigentlichen Probleme auszuklammern. Dieser verschwiegenen Strategie folgen mittlerweile auch Autoren, denen man das Etikett Marxismus anhängt, von den Marxisten-Leninisten ganz zu schweigen, deren affirmative Funktion bekannt ist, die sie weiterverfolgen, obwohl ihnen der Gegenstand ihrer Apologie abhandengekommen ist. 

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Letzte Aktualisierung: 19.06.2012

 

19.06.2012