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Zum „höchsten Gut“ bei Kant

Das moralische Gesetz (kategorischer Imperativ) kann nicht empirisch begründet werden, denn sonst hätte es keine allgemeine Geltung. „Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prinzip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßen Plichten; alle Heteronomie der Willkür gründet dagegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondern ist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlichkeit des Willens entgegen.“ (KpV, S. 144 / A 59). Da das moralische Gesetz oder Sittengesetz nur formal ist, die Verallgemeinerbarkeit der subjektiven Maximen zu einem allgemeinen Gesetz fordert, muss Kant auch auf den Inhalt der Maximen, die aus der Heteronomie stammen, eingehen. Dies geschieht im Begriff des höchsten Gutes. Es ist die Verknüpfung von Glückseligkeit und Tugend als Proportion der Würdigkeit, glücklich zu sein, in einer Person. (A. a. O., S. 238 f. / A 199) „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Existenz, alles nach Wunsch und Willen geht“ (a. a. O., S. 255). Die Tugend als „moralische Gesinnung im Kampfe“ (a.a.O., S. 207 / A 151), die aus dem Moralgesetz folgt, ist dann „die Würdigkeit glücklich zu sein“ (S. 238 / A 198). Sie ist in dieser Verbindung das Höchste im Sinn eines Obersten (supremum), die Bedingung für die Glückseligkeit. Beide zusammen erst machen das höchste Gut (perfectissimum) aus. Wer Glücksgüter genießt, ohne das moralische Gesetz zu beachten, dessen Bewusstsein gerät in einen Selbstwiderspruch, der es als konsistentes zerstören würde. Auf den kategorischen Imperativ zu verzichten, heißt nach Kant: Ich werde in meinen eigenen Augen ein Gegenstand der Verachtung und des Hasses.
Außer dem genannten Grund, das Formale mit dem Inhalt zu verknüpfen, gibt es noch andere zwingende Gründe, das höchste Gut in die Moralphilosophie einzuführen:

  • Der Mensch ist nach Kant ein vernunftbegabtes Sinnenwesen (siehe Anthropologie), als Sinneswesen ist der Mensch bedürftig und muss deshalb seine Glückseligkeit befördern.
  • Wäre der Mensch allein durch seine Tugend bestimmt, dann wäre er nichts Eigenständiges, nichts Individuelles mehr. Wenn er bloß durch die Tugend (Sittengesetz) bestimmt wäre, wäre er bloß eine Maschine seines Selbst. So wie die transzendentale Apperzeption noch keine reale Seele ist, sondern nur das logische Gerüst der Seele, so ist das Befolgen der Tugend ohne empirisches Subjekt bloß eine Schimäre. Autonomie kann deshalb immer nur einem empirischen Subjekt zukommen.
  • Die Notwendigkeit, die der kategorische Imperativ auferlegt, ist kein Naturgesetz, sondern ein Gesetz der Freiheit: Warum sollte ein Sinneswesen wie der Mensch dieser Notwendigkeit folgen, wenn ihm nicht auch die Glückseligkeit zumindest als Möglichkeit erschiene.
  • Die vermeintlich höhere Moral ohne höchstes Gut wär die Verneinung der Würde des Menschen. (Wenn Würde heißt, keinem Gesetz zu folgen, dem man nicht selbst zustimmen könnte, so kann ein empirisches Individuum keiner Moral zustimmen, die nicht seine Bedürfnisse als Sinnenwesen einbezieht.)
  • Das Ziel der Moralphilosophie, das allein in der Tugend läge, hätte als letztes Ziel das Nichts. Ohne die Realisierung der Glückseligkeit ist das moralische Gesetz ein leeres Hirngespinst (KrV, A 811). Die Tugend kann deshalb „noch nicht das ganze und vollendete Gut“ sein (KpV, S. 238 / A 198).
  • Tugend ist auch deshalb noch keine Glückseligkeit, weil die Tugend als Bewusstsein von der Selbstzufriedenheit mit dem eigenen Tun nur innerlich ist (wie bei den Stoikern), Glückseligkeit aber ist immer auch an materiale Objekte gebunden.
  • Glückseligkeit kann andererseits nicht allein schon die Handlungen bestimmen, indem aus ihr die Maximen abgeleitet werden (Epikureer), denn das Glück ist immer auch individuell; eine solche Auffassung würde zu einem Kampf um die Glücksgüter führen. Kants entscheidendes Argument gegen Stoiker und Epikureer ist: Beide, Glückseligkeit und Tugend, sind „ganz ungleichartig“ (KpV, S. 241 / A 203), es lässt sich nicht das eine auf das andere reduzieren.
  • Nach Sala (S. 252) gilt: Ohne Realisierung der Glückseligkeit ist das moralische Gesetz ein absurdum practicum. Der Handelnde nach diesem Gesetz wäre ein „Held des Absurden“, ein „tugendhafter Phantast“.
  • Die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes findet erst in ihrem Gegenstück, die Verbindlichkeit des Guten als Gegenstand des Wollens, ihre Rechtfertigung.
  • Andererseits ist das höchste Gut keine „Lohnmoral-Lehre“ für moralisches Handeln (Sala, S. 252), weil zur Beförderung der Glückmöglichkeit nicht die Befolgung des moralischen Gesetzes dient, sondern die Kenntnis der Naturgesetze und des physischen Vermögens, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen. (KpV, S. 242 / A 204 f.)
  • Kant fordert deshalb: „Wir sollen das höchste Gut … zu befördern suchen“ (KpV, S. 255 / A 225).

Kritisch ist allerdings zu fragen, ob Glückseligkeit wirklich nur individuell im Rahmen des Sittengesetzes ist oder ob nicht auch eine allgemeine Bestimmung der Glückseligkeit möglich ist, wie sie etwa Aristoteles konzipiert hat. Auf jeden Fall ist das höchste Gut bei Kant sozusagen der materialistische Aspekt seiner Moralphilosophie. Alle Kritik am höchsten Gut bei Kant durch Philosophen, die ansonsten seinem moralischen Rigorismus zustimmen, wird der Bestimmung des Menschen als Sinnenwesen nicht gerecht. Aus dem höchsten Gut ergeben sich aber Antinomien der praktischen Vernunft, die in den irrationalen Postulaten eines höchsten Wesens und der Unsterblichkeit der Seele münden.

Da nun die Beförderung des höchsten Gutes notwendiges Objekt unseres Willens ist und mit dem moralischen Gesetz „unzertrennlich zusammenhängt“, zugleich aber die Beförderung des höchsten Gutes durch das moralische Gesetz unmöglich ist, da es keinen kausalen Zusammenhang zwischen Tugend und Glückseligkeit gibt (wie auch die alltägliche Erfahrung lehrt), entsteht hier eine Antinomie (zwei Gesetzesbereiche werden verbunden, die nicht zu verbinden sind bzw. deren Verbindung nur eine Forderung der praktischen Vernunft ist).

Kant versucht diese Antinomie durch das Postulat eines Schöpfer der Natur zu lösen, der diese von vornherein dem Sittengesetze und den vernünftigen Glücksansprüchen der Menschen kompatibel erzeugt habe. Dann besteht die Hoffnung, das höchste Gut zumindest prinzipiell zu realisieren. Das Postulat eines Schöpfers ist aber aporetisch, nicht rational begründbar.

Entweder dient das Postulat Gottes dazu, das höchste Gut zu garantieren, dann widerspricht das der menschlichen Autonomie, aus der allein das Sittengesetz folgen soll, denn der immer nur heteronom denkbare Gott garantiert das höchst Gut und damit das Sittengesetz, sodass er zum Begründer des Sittengesetzes würde. Oder das Sittengesetz gilt auch, wenn es kein Postulat Gottes gäbe, dann folgte daraus die „Nichtigkeit des Endzwecks“ (Sala, S. 297), das Sittengesetz wäre bloß eine absurde Forderung.
Durch einen moralischen Gottesbeweis ist Gott nicht begründbar, auch nicht eingeschränkt als Postulat, das theoretisch nicht gelte, aber praktisch angenommen werden müsse. Kant geht von einem Bedürfnis aus und schließt auf die Existenz dessen, der die Bedürfnisbefriedigung sichern soll. Das ist entweder wishfull thinking oder wie bei Kant aus einem vernünftigen Bedürfnis erschlossen, das höchste Gut zu verwirklichen. Aus einem Bedürfnis, auch wenn es eines der Vernunft ist, folgt aber keine, wenn auch nur postulierte, Existenz der theologischen Garantie der Realisierung des Bedürfnisses (vgl. Beck, S. 240 ff.). Ist dieses Bedürfnis nicht realisierbar, dann ist eventuell die ganze Konstruktion der Moralphilosophie falsch, die auf einem nichtrealisierbaren Bedürfnis beruht. Allgemein formuliert: Moral ist in der kapitalistischen Gesellschaft, da, wo sie über die ideelle Existenzbedingung dieser Gesellschaft hinausgeht wie beim höchsten Gut, mehr oder weniger eine Illusion.

Im Übrigen steht die Metapher „Gott“ bei Kant lediglich für die Möglichkeit der Bedingungen der Realisierbarkeit des höchsten Gutes und nichts weiter. Lassen diese Bedingungen das höchste Gut nicht zu, dann müssen die Menschen diese Bedingungen allererst selbst schaffen – soweit dies in ihrer Macht steht. Dieser Gedanke führt direkt zur marxschen Theorie und ihrem historischen Imperativ, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, S. 385).


Literatur

Beck, Lewis White: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar, München 1974.
Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, Ffm. 1974.
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1971.
Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, Berlin 1974.
Sala, Giovanni B.: Kants „Kritik der praktischen Vernunft“. Ein Kommentar, Darmstadt 2004.

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Letzte Aktualisierung: 02.07.2012

 

02.07.2012