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Moralgesetz

(Zeiter Teil des Auszuges)

Kant muss letztlich eingestehen, dass ein positiver Beweis durch empirische Handlungen nicht möglich ist und in der Sphäre der Erscheinungen niemand mit Sicherheit sagen kann, er handle allein aus Vernunft. „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“ (Kant: KrV, S. 536/B 579) Diese Einsicht in die Grenzen, moralische Schuld und Verdienst bei empirischen Personen zu bestimmen, blamiert jede moralische Anklage, die im Brustton der Überzeugung daherkommt. Der Grund liegt darin, dass die Moralität einer Handlung auf der inneren Zustimmung basiert, zu der von außen kein Zugang besteht und die das Selbst auch nur schwer bis in die Tiefen seiner Seele (dem Unbewusste) ergründen kann.

Aber der kategorische Imperativ ist auch kein empirischer Begriff, sondern eine Vernunftbestimmung. Man kann fordern, dass die Menschen ihn in ihren Handlungen berücksichtigen und einbeziehen. Und weil dies in den antagonistischen Verhältnissen oft nicht möglich ist, kann er zumindest als Maßstab der Kritik an diesen Verhältnissen dienen. Gäbe es kein solches moralisches Vernunftgesetz, dann wäre solche Kritik bloß partikular, kein Grund, das Ganze der Produktionsweise zu verändern, es gäbe kein gemeinsames Ziel der Veränderung, es entstünde, gelänge diese Veränderung, keine qualitativ bessere Gesellschaft als die bestehende.

Die Deduktion des Moralgesetzes

Das Moralgesetz setzt Freiheit voraus, denn sonst bedürfte das vernünftige Sinneswesen Mensch keines Gesetzes. Freiheit ist aber nach Kant nur zu erkennen aus der Aufstellung eines solchen Gesetzes. „Damit man hier nicht Inkonsequenzen anzutreffen wähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung des moralischen Gesetzes nenne, und in der Abhandlung nachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Bedingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheit bewußt werden können, so will ich nur erinnern, daß die Freiheit allerding die ratio essendi (Existenzgrund, BG) des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi (Erkenntnisgrund, BG) der Freiheit sei. Denn, wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas, als Freiheit ist (ob dieses gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.“ (Kant: KpV, S. 108 Anm./A 5)

Abgesehen von sich widersprechenden Formulierungen Kants, ob das Moralgesetz einer Deduktion fähig ist (vgl. Streichert: Freiheit, S. 56), lässt es sich wohl „deduzieren“, wenn man den kantischen Begriff zugrunde legt. Danach ist Deduktion von reinen Begriffen und Bestimmungen notwendig, da sie „völlig unabhängig von aller Erfahrung“ „bestimmt sind“, also nicht durch Erfahrung ihre „objektive Realität“ begründen können (Kant: KrV, 126/B 117). Deduktion von reinen Verstandes- und Vernunftbestimmungen, also auch des Moralgesetzes, bestimmt Kant so: „Ich nenne daher die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können, die transzendentale Deduktion derselben“ (a. a. O., S. 127/B 117). Als Vernunftgesetz beruht der Kategorische Imperativ auf transzendentalen Kategorien, die aus wahrer Wissenschaft als deren Bedingung der Möglichkeit erschlossen und auf alle Vernunftgegenstände ausgeweitet wurden. Freiheit ist solch eine notwendige Bedingung der Möglichkeit wahrer Wissenschaft, denn würde man die Freiheit aus dem Denken weglassen, dann gäbe es kein Denken und keine Wissenschaft mehr, denn ohne Freiheit könnte sie nicht überprüfen, ob ihre Bestimmungen mit der Sache übereinstimmen. Wissenschaft ist als allgemeine Arbeit auf die Beherrschung von Naturvorgängen bezogen, hat also bereits einen praktischen Bezug: Die technisch-praktische Freiheit, in den Naturverlauf einzugreifen. Indem die menschliche Vernunft ein praktisches Prinzip für alle Handlungen begründet und seine Beziehung auf Gegenstände über die Maximen mit Notwendigkeit herstellt, ist das Moralprinzip „deduziert“. (Zum Verhältnis von Wissenschaft und Moralgesetz, vgl. die Reflexionen über „Wertfreiheit“ in 26., Positivismuskapitel) „Wenn das moralische Gesetz, wie Freiheit und Natur auch, als notwendig erkannt sind, sind sie damit bewiesen, oder, nach dem Begriff der Deduktion aus der Kritik der reinen Vernunft, deduziert.“ (Streichert: Freiheit, S. 64) Nun ist das Moralgesetz notwendige Bedingung der Möglichkeit von wahrer Wissenschaft – wie oben gezeigt -, also ist es deduziert.

Der Einwand des „Formalismus“

Hegel kritisiert den Formalismus der kantischen Moralphilosophie und des Kategorischen Imperativs. Indem auf jeden Inhalt Verzicht getan wird, sei „jede Bestimmtheit“, die an ihm gesetzt wird, „ungemäß“ (Hegel: Phänomenologie, S. 315). „Indem hiermit auf einen absoluten Inhalt Verzicht getan werden muß, kann ihm nur die formale Allgemeinheit oder dies, daß es sich nicht widerspreche, zukommen; denn die inhaltlose Allgemeinheit ist die formale, und absoluter Inhalt heißt selbst soviel als ein Unterschied, der keiner ist, oder als Inhaltslosigkeit.“ (A. a. O., S. 315 f.) Was von dem Moralgesetz dann übrig bleibt, ist die „reine Form der Allgemeinheit“, die „Tautologie des Bewußtseins“ (a. a. O., S. 326). „Das sittliche Wesen ist hiermit nicht unmittelbar selbst ein Inhalt, sondern nur ein Maßstab, ob ein Inhalt fähig sei, Gesetz zu sein oder nicht, indem er sich nicht selbst widerspricht. Die gesetzgebende Vernunft ist zu einer prüfenden Vernunft herabgesetzt.“ (A. a. O., S. 316) Da der Maßstab aber bloß die Widerspruchsfreiheit oder die Tautologie sei, lasse sich das eine, eine Gesamtheit von Maximen, oder sein kontradiktorisches Gegenteil, einer anderen Gesamtheit von Maximen, mit der gesetzprüfenden Vernunft vereinbaren. Der zu prüfenden Inhalt des bloß formalen Moralgesetzes ist „die Zufälligkeit des Wissens, der Wirklichkeit und des Tuns“ (ebda.). „Das Prüfen reicht aber aus diesem Grunde nicht weit; eben indem der Maßstab die Tautologie und Gleichgültigkeit gegen den Inhalt ist, nimmt er ebenso diesen als den entgegengesetzten in sich auf.“ (A. a. O., S. 317)

Diese Kritik Hegels am Formalismus des Moralgesetzes trifft aber dieses nur teilweise. Hegel ist zu entgegnen: In einer sich in historischer Perspektive schnell wandelnden Welt ist ein Kasuismus des Verhaltens, der für jeden Fall eine moralische Regel parat hat, ebenso eine substanzielle Sittlichkeit, die auf einer statisch-ständischen Gesellschaft beruht, wie sie Hegel konzipiert, nicht mehr möglich. Der kantische Formalismus erweist sich dadurch als modernere Form der Moral, weil er nur ein Moralprinzip hat, das auf alle Handlungen in allen Situationen bezogen werden kann, dadurch immer moralische Orientierung erlaubt.

Außerdem ist der Formalismus der ersten Form des Kategorischen Imperativs eingeschränkt durch die zweite Form (nach GMS) in der Gestalt: „Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ (Kant: GMS, S. 61/BA 66 f.) In dieser Gestalt des Kategorischen Imperativs ist nicht jedes System von Maximen, die sich als Gesetze verallgemeinern lassen, zugelassen, sondern nur die, welche den Menschen als Zweck an sich selbst gelten lassen, „als einschränkende Bedingung“. „Das Prinzip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst (welche die oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden Menschen ist), ist nicht aus der Erfahrung entlehnt, erstlich, wegen seiner Allgemeinheit, da es auf alle vernünftigen Wesen überhaupt geht, worüber etwas zu bestimmen keine Erfahrung zureicht; zweitens, weil darin die Menschheit nicht als Zweck der Menschen (subjektiv), d.i. als Gegenstand, den man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern als objektiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird, mithin aus reiner Vernunft entspringen muß.“ (A. a. O., S. 63) Da nur vernünftige Wesen Subjekt aller Zwecke sein können, ist der Mensch als Zweck an sich selbst anzusehen. Er ist aufgrund seines intelligiblen Charakters (seine Fähigkeit aus Freiheit Neues zu schaffen, sich Vernunftzwecke zu setzen) auch metaphysisch begründet Selbstzweck. Dass der Mensch Zweck an sich selbst ist, folgt aus der negativen Metaphysik Kants. Ein zwecksetzendes Wesen als Erscheinung setzt ein entsprechendes intelligibles Substrat in der ontologischen Sphäre, im Ding an sich, voraus, auch wenn wir dieses nicht bestimmen können (deshalb „negative Metaphysik“).

Nach Kant ist „gut“ uneingeschränkt nur der reine gute Wille, der das Moralgesetz aufstellt (Kant: GMS, S. 18/BA 1). Indem er es aus der Vernunft entwickelt, begründet er die Autonomie des Menschen (a. a. O., S. 74 f./BA 87). Das Moralgesetz ist „heilig“, d. h. unantastbar, weil es mit apodiktischer Geltung aus der Autonomie der Vernunft begründet ist (a. a. O., S. 75/BA 88). Wenn aber das Moralgesetz unantastbar ist, dann kann der Mensch mit seinem guten Willen, der das Moralgesetz begründet hat und ihm untersteht, nicht antastbar sein. „Daß, in der Ordnung der Zwecke, der Mensch (mit ihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbst sei, d. i. niemals bloß als Mittel von jemanden (selbst nicht von Gott), ohne zugleich hiebei selbst Zweck zu sein, könne gebraucht werden, daß also die Menschheit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse, folgt nunmehr von selbst, weil er das Subjekt des moralischen Gesetzes, mithin dessen ist, was an sich heilig ist, um dessen willen und in Einstimmung mit welchem auch überhaupt nur etwas heilig genannt werden kann. Denn dieses moralische Gesetz gründet sich auf der Autonomie seines Willens, als eines freien Willens, der nach seinen allgemeinen Gesetzen notwendig zu demjenigen zugleich muß einstimmen können, welchem er sich unterwerfen soll.“ (Kant: KpV, S. 263 f./A 237 f.)

Oder negativ formuliert: Wer das Moralgesetz nicht innerlich anerkennt, also auch den Urheber, die Menschheit als Vernunft in jedem einzelnen Individuum, der erklärt mir den Krieg oder der ist mit mir im Kriegszustand, denn er betrachtet mich potenziell oder tatsächlich als bloßes Mittel seiner individuellen Interessen. So haben diejenigen, die zweimal in Deutschland einen Weltkrieg vom Zaun gebrochen haben, um dem nationalen Kapital die Weltherrschaft zu ermöglichen, nicht nur gegen einen äußeren Feind Krieg geführt, sondern auch gegen die eigenen Soldaten, die sie als „Menschenmaterial“, d. h. als bloße Mittel, für ihre unmoralischen Zwecke geopfert haben, und ebenso haben sie durch Propaganda deren Bewusstsein zerstört, damit sie sich ohne Widerstand opfern und hinschlachten lassen (vgl. Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit).

Die objektiven und subjektiven Bedingungen des Moralgesetzes

Es ist nicht zufällig, wenn diese metaphysische Bestimmung des Menschen als Zweck an sich selbst als moralischer Maßstab in die marxsche Kritik der politischen Ökonomie eingeht. Denn die Idee darf nicht nur die Wirklichkeit verändern wollen – sozusagen als romantisches Ideal -, sondern eine ideelle Zielsetzung muss auch auf eine Wirklichkeit treffen, die zur Idee hindrängt (MEW 1, S. 383). Marx selbst hat zumindest die objektiven Bedingungen schlüssig begründet, warum Herrschaft, welche die Menschen zum bloßen Mittel macht, abschaffbar ist und alle Menschen in ihrer Selbstzweckhaftigkeit anerkannt werden können: Die durch den Kapitalismus geschaffenen Produktivkräfte und eine gewaltige Produktion von Gütern mit der Möglichkeit, nicht nur das Elend abzuschaffen, sondern auch „Zuckerebsen für alle“ (Heinrich Heine), d. h. allgemeinen Luxus im Vergleich zu früheren historischen Epochen, zu schaffen.

Aber auch die subjektiven Bedingungen, soweit sie moralische sind, lassen sich in Ansätzen und z. T. verkehrter Form nachweisen. Roland Pelzer hat mit Hegel darauf hingewiesen, dass Kants Formalismus immer schon moralische Verhaltensweisen in der sozialen Wirklichkeit voraussetzt. Und insofern habituelles Verhalten als zweite Natur notwendig zu jeder Gesellschaft spätestens seit der ägyptischen Antike gehört, sind moralische Verhaltensweisen als ontologische in der gesellschaftlichen Praxis vorausgesetzt. „Gegen das kantische Prinzip aber, daß die Maxime einer Handlung als allgemeines Gesetz nicht widersprechend sein soll, wird streng argumentiert, dies allein gebe kein Verbindlichkeit begründendes Kriterium ab; damit ein Widerspruch überhaupt möglich sei, müsse bereits ein gültiger ethischer Sachverhalt, etwa, daß Menschenleben oder daß Eigentum sein solle, vorausgesetzt werden, dem eine Handlungsmaxime, als Gesetz gefaßt, widersprechen könne. Die Stringenz dieses Arguments wird nicht bestritten werden können.“ (Pelzer: Studien, S. 25)

Nun ist in der kapitalistischen Gesellschaft die rechtliche Gleichheit der Menschen vorausgesetzt, ohne die sich kein Arbeitsmarkt und keine Durchschnittsarbeitszeit als Wert bilden kann, auch wenn unter dem Schein des Äquivalententausches in der Zirkulationssphäre Nichtäquivalente in der Produktionssphäre (als Mehrwertabschöpfung) getauscht werden. Die Freiheit der Person ist Voraussetzung, dass sie Verträge abschließen und den Warenverkehr organisieren kann, auch wenn die Freiheit der Person andererseits für die meisten Menschen die Befreiung von den Bedingungen ihrer Existenz bedeutet, sodass sie nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, um zu leben. Die Sicherung des Eigentums ist für eine Marktwirtschaft entscheidend, weil das Eigentum die Existenzgrundlage des Einzelnen ist – auch wenn auf der anderen Seite die Eigentumsordnung eine herrschaftsbedingte Scheidung der meisten Menschen vom Produktiveigentum bedeutet. Zumindest ein Minimum an Solidarität der Lohnabhängigen untereinander ist in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig, wollen sie nicht dem Ideal des Kapitals erliegen, so wenig wie möglich Lohn auszuzahlen – bis hin zur Vernichtung durch Arbeit (vgl. Bulthaup: Gesetz, S. 127).

Gleichheit, Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Solidarität als moralische Substanz der bürgerlichen Gesellschaft, so gebrochen sie auch erscheinen, lassen sich verallgemeinern, entsprechen also dem Kategorischen Imperativ in beiden Fassungen. Dieser ist aber auch ein kritischer Maßstab, insofern die herrschenden Bestimmungen in der Gesellschaft Ungleichheit, Unfreiheit, einerseits Armut, andererseits große Vermögen, soziale Unsicherheit für die Lohnabhängigen und letztlich ihre Entsolidarisierung bedeuten. Da die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft mit ihrer Ökonomie zum bloßen Mittel werden, ist der Kategorische Imperativ in seiner zweiten Gestalt sogar ein Grund, diese abzuschaffen und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Da aus dem Moralgesetz die Anerkennung von Gleichheit, Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Solidarität folgt, hätte eine sozialistische Gesellschaft diese nicht abzuschaffen, wie im bürokratischen Kollektivismus des Ostens teilweise geschehen, nur weil sie in der bürgerlichen Epoche entstanden und z. T. funktional in dieser involviert sind, sondern von ihren herrschaftlichen Beschränkungen durch das Kapital zu befreien.

Die Bedingungen der Realisierung des Moralgesetzes

Die Postulate von Dasein Gottes und von der Unsterblichkeit der Seele geben bei Kant die metaphysischen Bedingungen an, unter denen allein das Moralgesetz realisiert werden kann. Ihre Kritik als theologische Postulate suspendiert nicht von der darin enthaltenen Problematik einer Etablierung des Moralgesetzes. Dass der Stand der Produktivkräfte eine solche Realisierung ökonomisch erlaubt und dass in der bürgerlichen Gesellschaft moralische Bestimmungen wie in den Menschenrechten bereits involviert sind, wurde schon gezeigt. Die Postulate weisen aber auf weitere Bedingungen einer Realisierung des Moralgesetzes hin.

Kant hat in seiner Moralphilosophie das Problem, wie er das Moralgesetz (Kategorischer Imperativ), das aus reiner praktischer Vernunft gewonnen ist, mit den Naturbedingungen und seien es die zweiter Natur, die geronnene Gesellschaftsstruktur, die insbesondere die Triebstruktur des Menschen prägt, vermitteln kann. Entweder stehen diese Naturbedingungen der Realisierung der Moral diametral entgegen, sodass der menschlichen Vernunft nichts bleibt als das „larmoyante Einverständnis mit den Verhältnissen“ (Peter Bulthaup über Andre Gorz) oder die Vernunft kann auf eine mögliche Verwirklichung vernünftiger Verhältnisse in Form eines moralischen Zustandes (soweit dies Menschen möglich ist) hoffen, in denen das Moralgesetz frei von antagonistischen Sozialverhältnissen die Beziehungen der Menschen als Gesetz ihrer Freiheit regelt. Aus der Natur des Menschen folgt sein berechtigtes Streben nach Glückseligkeit, dass „alles nach Wunsch und Willen geht“ (Kant: KpV, S. 255/ A 224 f.); aus dem Moralgesetz folgt, nach Maximen zu handeln, die sich zum allgemeinen Gesetz verallgemeinern lassen, auch gegen das Streben nach Glückseligkeit, wie es in der Sinnlichkeit angelegt ist. Handelt der Mensch nach der vernünftig bestimmten Sittlichkeit, dann legitimiert dies eine ihr proportionierte Glückseligkeit, beides zusammen ist für Kant das höchste Gut, das Menschen erreichen können.

Da aber aus dem „moralischen Gesetze nicht der mindeste Grund zu einem notwendigem Zusammenhange zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit eines zur Welt als Teil gehörigen, und daher von ihr abhängigen, Wesens, welches eben darum durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natur sein, und sie (…) mit seinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräften nicht durchgängig einstimmig machen kann“, besteht (KpV; S. 255/A 224 f.), bleibt Kant nichts anderes übrig, als eine metaphysische Annahme zu machen: Er postuliert das Dasein Gottes.

„(…) wir sollen das höchste Gut (welches also doch möglich sein muß) zu befördern suchen. Also wird auch das Dasein einer von der Natur unterschiedenen Ursache der gesamten Natur, welche den Grund dieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Übereinstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit, enthalte, postuliert. Diese oberste Ursache aber soll den Grund der Übereinstimmung der Natur nicht bloß mit einem Gesetz des Willens der vernünftigen Wesen, sondern mit der Vorstellung dieses Gesetzes, so fern diese es sich zum obersten Bestimmungsgrunde des Willens setzen, also nicht bloß mit den Sitten der Form nach, sondern auch ihrer Sittlichkeit, als dem Bewegungsgrunde derselben, d. i. mit ihrer moralischen Gesinnung enthalten. Also ist das höchste Gut in der Welt nur möglich, so fern eine oberste (Ursache) der Natur angenommen wird, die eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat.“ (KpV; S. 255 f./A 225 f.) Diese Ursache kann nur eine Intelligenz sein und als Urheber der Natur, der selbst nicht Natur ist, ist sie Gott. „Nun war es Pflicht für uns, das höchste Gut zu befördern, mithin nicht allein Befugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnis verbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieses höchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet, die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzertrennlich verbindet, d. i. es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.“ (KpV; S. 256/A 226) Betont Kant bei der Begründung des Moralgesetzes die Autonomie, das dieses Moralgesetz allein aus der Vernunft des Menschen folgen solle, so zeigt sich hier, dass diese Autonomie nur möglich ist auf Grund der Heteronomie, dass ein Gott als Vernunftursache das Moralgesetz ermöglichen soll – was die menschliche Autonomie wieder aufhebt.

Dieser „moralische Gottesbeweis“ ist auch in sich problematisch. Ein Postulat ist nach Kant ein Grundsatz, der einen Gegenstand allererst hervorbringt. Er muss deduziert werden, d. h. seine Notwendigkeit als Bedingung der Möglichkeit eines Gegenstandes erweisen. Da das höchste Gut nur eine Möglichkeit ist, kann die Deduktion als Postulat vom Dasein Gottes auch nur eine Möglichkeit sein. Eine Möglichkeit aber ist widersprüchlich: Sie kann sein, kann aber auch nicht sein – sie hängt letztlich vom Realisierungswillen der Menschen ab. Und so ist das Dasein Gottes aus moralischen Gründen bei Kant auch keine theoretische Einsicht in die Realität Gottes, sondern bloß eine Hoffnung, die sich aus der Konstruktion seiner Moralphilosophie ergibt.

„Gott“ bezeichnet die Möglichkeit bei Kant, den vernünftigen Willen zu realisieren, weiter nichts. Der realisierte vernünftige Wille wäre dann die Realität Gottes in der Welt – oder dieser Gott „als ob“ wäre nur, wenn die Menschen eine vernünftige Welt schaffen, er wäre nur mithilfe der Menschen. Allerdings ist der kantische Gott kein christlicher Gott, keine personifizierte Instanz, sondern ein Begriff, der die Bedingungen der Realisierung des vernünftig bestimmten Willens als möglich garantieren soll. Das aber ist fast schon die hegelsche Theologie, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass aus Kants Postulat bei Hegel eine apodiktische Gewissheit wird. Was sich in diesem Postulat vom Dasein Gottes reflektiert, ist das Problem, wie Moralprinzipien zu vorherrschenden Verhaltensweisen in einer immer auch durch Naturverhältnisse geprägten Gesellschaft werden können. Wenn gilt, dass entweder Moral das gesellschaftliche Leben bestimmt oder ein Krieg eines jeden gegen jeden, also ein Interessenkampf bis hin zum blutigen Krieg (vgl. Kant: KrV., S. 687 f./B 779 f.), dann hat jede praktische Philosophie, die diesen Interessenkampf auf friedliche Regeln restringieren oder gar die antagonistischen Klasseninteressen abschaffen will, das kantische Problem, das dieser mithilfe des Postulats vom Dasein Gottes lösen, jedenfalls seine Lösung als möglich erscheinen lassen wollte. Wäre der vernünftig bestimmte Willen der Menschen und die Naturbedingungen seiner Realisierung (wozu auch die zur zweiten Natur geronnenen gesellschaftlichen Beziehungen gehören) radikal verschieden, dann wären dieser Wille und seine Realisierungsmöglichkeit überhaupt nicht aufeinander beziehbar, oder der vernünftig bestimmte Wille wäre eine Illusion, weil ein Wille, der sich nicht realisieren könnte, ein Wille von Nichts wäre. Fielen dagegen vernünftig bestimmter Wille und sein Realisierungsgrund umstandslos zusammen, dann bedürfte es keiner moralischen Anstrengung, keines Imperativs und keiner Sollensforderung, es gäbe keinen Zwist unter den Menschen und keine Kriege – was offenbar der sozialen Wirklichkeit widerspricht.

Als Vernunftwesen, das an seine Sinnlichkeit gebunden ist, stehen wir aber den Naturbedingungen der Realisierung des vernünftigen Willens gegenüber und müssen hoffen, dass diese Naturbedingungen (einschließlich der naturalen Beschaffenheit des Menschen) die Realisierung nicht prinzipiell verhindern. Gott ist bei Kant nicht mehr als diese Hoffnung, die mögliche Übereinstimmung von vernünftig bestimmtem Willen und Naturbedingungen. Dann ist das Postulat Gottes etwas, das der Moralphilosophie Kants immer schon vorausgesetzt ist, ohne dieses Postulat von einer der Vernunft kompatiblen Struktur der Natur wäre Moralphilosophie illusionär, ein bloßes Sprachspiel, zu dem sie im linguistic turn verkommen ist.

Anmerkung zum marxschen Programm der Realisierung eines
Vereins freier Menschen

Die historisch entstandenen Produktionsverhältnisse bestimmen die Gegenwart des Menschen, aber sie bedingen nur die Folgen der Gegenwart in der Zukunft. Zwischen Gegenwart und Zukunft liegt ein Bruch, sodass die Zukunft auch durch den freien Willen der Menschen auf der Basis des Entstandenen bestimmt wird. In der Gegenwart sind die Lohnabhängigen gezwungen, sich dem Kommando des Kapitals zu unterstellen, wenn sie leben wollen. Dadurch wird aber nicht ihr freier Wille ausgeschaltet, sondern im Gegenteil, zur Produktion von Mehrwert, also mehr Wert, als ihre Arbeitskraft kostet, ist ihr freier Wille notwendig. Um z. B. eine Zeichnung in ein Werkstück zu realisieren oder die Kulturpflanze von den Wildkräutern zu trennen, ist ein freier Wille vorausgesetzt. (Deshalb kann auch die Mehrwertproduktion nicht allein von Maschinen ausgeführt werden.) Aber dieser freie Wille muss sich dem Kommando des Kapitals (als anonymes automatisches Subjekt, vertreten durch Meister, Manager, Ökonomen usw.) unterwerfen, das die Zwecke der Produktion setzt. Der freie Wille der unmittelbaren Produzenten ist konstitutiv für die Mehrwertproduktion. Wie der freie Wille der Arbeitenden Voraussetzung ihrer Unterwerfung unter die bestehenden Produktionsverhältnisse ist, so geht der freie Wille nicht in dieser Determination auf, sondern kann sich prinzipiell diesen Verhältnissen verweigern oder sie umgestalten. Der freie Wille der Lohnabhängigen ist Voraussetzung der Herrschaft des Kapitals und zugleich die Möglichkeit, diese Herrschaft abzuschaffen.

Marx hat in seinen Überlegungen zur Revolution und in seiner praktische Tätigkeit das Subjekt der Veränderung der antagonistischen Gesellschaft des Kapitals im Proletariat gesehen. Indem die Lohnabhängigen mit dem industriellen Proletariat als ihrem Kern allein die Macht haben, die kapitalistische Produktionsweise zu beseitigen und an deren Stelle eine Gesellschaft ohne Herrschaft zu etablieren, in der die Freiheit des Einzelnen zur Bedingung der Freiheit aller wird und die Individuen ihre Verhältnisse nach vernünftigen Zwecken und ihre Ökonomie nach einem verabredeten Plan organisiert regeln, könnte es möglich sein, das Moralgesetz als Gesetz der Freiheit zur Geltung zu bringen und so größere Konflikte auszuschließen. Nachdem aber die Arbeiterklasse es bisher nicht geschafft hat, die Klassengesellschaft mit ihrer zerstörerischen Ökonomie zu beseitigen, bestehen soziale Bedingungen fort, die es prinzipiell verhindern, dass ein Gesetz der Freiheit die menschlichen Verhältnisse regelt. Unter solchen Bedingungen tritt das kantische Problem der Realisierung des vernünftigen Willens noch schärfer auf. Die Hoffnung auf einen Gott als Urheber der Welt, der die Bedingungen der Realisierung des vernünftigen Willens garantiert, ist uns auf dem avancierten Stand der Vernunft nicht mehr möglich. Angesichts der entwickelten Produktivkräfte, die immer auch als Destruktivkräfte genutzt werden, ist es heute sogar möglich, dass sich die Spezies Mensch auf dem Planeten ausrottet. Dennoch haben die Vernünftigen auf der Erde keine andere Wahl, als auf die Möglichkeit zu hoffen, dass die Natur des Menschen es zulässt, vernünftige Verhältnisse einzurichten. Aber es kommt nur so viel Vernunft in die Welt, als die Vernünftigen realisieren (Galilei, in Bertolt Brechts gleichnamigem Stück).
(Es folgt eine Reflexion auf den rationalen Gehalt der Postulate von „Gott“ und der „Unsterblichkeit der Seele“, die sich auf die Bedingungen der Realisierung des Moralgesetzes  und die Opfer der Entwicklung in der Geschichte beziehen. Zur Problematik der Bedingungen der Realisierung des Moralgesetzes siehe auch das Glossar in dieser Ausgabe der Erinnyen über Kants „höchstes Gut“.)

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Letzte Aktualisierung: 02.07.2012

 

02.07.2012