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Kurt Wallau (Pseudonym) über:
Bodo Gaßmann: Die metaphysischen und ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens. Resultate der kritischen Philosophie,
Garbsen 2012.
(Hrsg. vom Verein zur Förderung des dialektischen Denkens; 560 S.; Fadenheftung; Paperback; 24,00 €) Das Inhaltsverzeichnis, Abstrakt und weitere Informationen über dieses Buch können Sie einsehen unter:
http://www.erinnyen.de/aktuelles/aktuell8.html
Philosophie verkommt in diesem Lande, das früher das der Dichter und Denker genannt wurde, zum Exotenfach, zum leerlaufenden Wissenschaftsbetrieb, zur Leugnung des spezifisch Menschlichen der Vernunft durch die Repräsentanten der Vernunft selbst, oder gar zum Aptum der Rhetorik und Reklame. Wenn das Standardwerk zur Philosophiegeschichte, der neue „Überweg“, gerade mal eine Auflage von 2500 Exemplaren hat, dann reicht das noch nicht einmal, um alle (größeren) Bibliotheken zu beliefern. Dabei enthält jeder Satz, der über die Darstellung von Fakten hinausgeht, philosophische Voraussetzungen, deren Ignoranz zwangsläufig zu Fehlern führen muss. Verfällt Philosophie, verfällt das rationale Denken in der Gesellschaft mit der Folge, dass diese Gesellschaft – trotz allen naturwissenschaftlichen Spezialwissens – in Irrationalismus abgleitet und damit ohne Bewusstsein von sich selbst bleibt, wenn sie in die nächste Katastrophe schlittert. Bestenfalls existieren noch Versatzstücke der Philosophie als „Weltanschauung“, eine contradictio in adjecto, da die Welt nicht anschaubar ist, oder als Ideologie.
Gegen diesen Verfall des philosophischen Denkens stellt der Autor sein Buch über metaphysische und ontologische Grundlagen des Denkens. Schon allein durch diesen Titel steht das Werk gegen „bürgerliche und modische Philosophie“, wie es im Klappentext heißt, zu erwähnen wäre Habermas mit seiner Schrift „Nachmetaphysisches Denken“. Was bei Gaßmann mit metaphysischen Grundlagen gemeint ist, kann man sich am Beispiel eines physikalischen Gesetzes deutlich machen. Der Satz: Massen gravitieren wechselseitig, enthält den Substanzbegriff der Masse, er enthält die (akzidentelle) Qualität Anziehung, die auch quantitativ bestimmt werden kann, etwa als Erdbeschleunigung. Er enthält die Relation zwischen Massen. Das Gravitationsgesetz ist als solches zeitlos oder überzeitlich, bestimmt aber Erscheinungen in Raum und Zeit. Der obige Satz impliziert also die Kategorien: Substanz, Qualität, Quantität, Relation sowie die Formen der Anschauung Raum und Zeit – alles metaphysische Bestimmungen, mit denen das philosophische Denken begann, die Welt des Menschen zu erkennen, sich seiner selbst zu versichern und so viel Distanz zur Natur zu gewinnen, um Teile der Natur beherrschen zu können. Der Satz ist auch wahr in der Bedeutung eines eminenten Wahrheitsbegriffs, der auch einen ontologischen Bezug hat. Wäre er nur eine Projektion unseres Denkens, dann könnte er nicht das Praxiskriterium erfüllen, nach dem eine wissenschaftliche Aussage, neben ihrer Widerspruchsfreiheit und stimmigen Einfügung in das System der Erkenntnisse, wahr ist, wenn sie zur Bedingung der Möglichkeit der heute existierenden Gesellschaft geworden ist. Als eminente Wahrheit hat dieser Satz dann auch einen ontologischen Bezug: Gaßmann spricht von Begriffen, die etwas in der ontologischen, also extramentalen, Sphäre „treffen“. Dabei wendet er sich zugleich gegen eine Ontologie alles Seienden, die schon Aristoteles abgelehnt hat, weil deren Totalitätsbegriffe widersprüchlich sind (z. B. enthält „körperliche Substanz“ lebendige und zugleich nicht-lebendige Körper unter sich). Der Autor kritisiert aber auch den modernen Nominalismus (linguistic turn, Pragmatismus und Poststrukturalismus), weil er kein Fundament in der ontologischen Sphäre mehr denken kann, Wahrheit also zu formalistischen Wahrheitswerten zusammengeschnurrt ist oder ganz abgestritten wird.
Damit diese Auffassung von der Stellung des Denkens zur objektiven Realität begründet werden kann, müsse man an die Wurzel der Probleme in der Geschichte der Philosophie gehen, in der sie ganz oder teilweise argumentativ gelöst wurden. Das Historische, die Genesis der Probleme, ist für Gaßmann und der Schule, aus der er kommt und die er „kritische Philosophie“ nennt, ein nicht zu vernachlässigendes Moment des Systematischen heutigen Philosophierens. Diese Verschränkung von Historischen und Systematischen kann erst einen avancierten Stand der Vernunft begründen. Schließe man das Historische aus, dann müsse man alle Fehler der Vernunft in ihrer Entwicklung immer wieder machen. Insofern gibt es für ihn keine veraltete Philosophie, selbst deren Fehler und Sackgassen sind nicht einfach zu eliminieren, sondern als ein Falsches zu betrachten, das einen wahren Begriff begründet hat – zumal die Philosophie als Totalitätswissenschaft keine Experimente an einzelnen Phänomenen durchführen kann, um ihre Thesen zu beweisen, und metaphysische Aussagen sich nur erschließen, aber nicht sinnlich erfahren lassen. Solche Gedanken stehen natürlich quer zu dem heutigen Alltagsbewusstsein, das von oberflächlichen Denkern bestätigt wird, in dem das neueste iPhone, das neueste Auto immer besser sind als das geschichtlich Überholte, ein Bewusstsein, in dem Geschichte bestenfalls als Kuriosität vorkommt.
Gaßmann fängt, nach einer Reflexion über das Verhältnis von Mythos und Logos, mit Parmenides an. Das ist derjenige Philosoph, der als erster einen rein metaphysischen Begriff, den des Seins, begründet hat. Zwar erklärt dieser Begriff kaum etwas an der objektiven Realität, das Kriterium rationaler metaphysischer Begriffe bei Gaßmann, er war aber wichtig als Selbstverständigung des Denkens mit sich selbst, als Selbstgewissheit des Denkens, dass es einen abstrakten metaphysischen Begriff denken kann. Die folgende Entwicklung der Philosophie bis zu Aristoteles liest sich wie ein spannender logischer Roman. Gorgias zeigt, dass das parmenideische Sein als bestimmungsloses nicht vom Nichts, das auch bestimmungslos ist, zu unterscheiden ist. Gegen seine Schlussfolgerung, der Nihilismus, dass gar nichts sei, zeigt Platon die Implikationen im Seinsbegriff auf: Wenn es durch Abstraktion von allen sinnlich erfahrbaren Seienden gewonnen wurde, dann bleibt dies vielfache Seiende als seine Voraussetzung bestehen. Der Begriff des Seins wird in seiner Ideenlehre aufgehoben, Ideen, die ebenfalls das andere des Empirischen sind. Indem Aristoteles die Aporien der Ideenlehre herausarbeitet (Aporie des dritten Menschen, bloße Behauptung der Methexis (Teilhabe) der empirischen Dinge an den Ideen), gelangt er zu seinem Begriff der Art-Form, des Wesens, des Soseins, das nicht in einer ontologisch gedachten Ideen-Sphäre existiert, sondern real nur in den Dingen selber ist.
Aristoteles, insbesondere seine „Metaphysik“ und „Seelenlehre“, ist dann der Höhepunkt der antiken Philosophie – oder wie Marx sagt: Wir sind heute so weit entwickelt, weil wir auf den Schultern von Aristoteles stehen. Hier ist es nötig, darauf hinzuweisen, dass Gaßmann keine eigenen Forschungen präsentiert, sondern im Zusammenhang mit den Primärtexten den argumentativen Gehalts der Philosopheme darstellt. Für die antike Philosophie bezieht er sich auf Vorlesungen von Peter Bulthaup, dessen Schüler er war, in Bezug auf Kant orientiert er sich an Frank Kuhne, ebenfalls ein Bulthaup-Schüler, und ansonsten stützt er sich auf verschiedene Autoren wie z. B. auf Günther Mensching. Dass die Darstellung Resultate präsentiert, sagt schon der Untertitel des Buches aus. Jemand, der sein Spezialgebiet bei diesen oder jenen Philosophen hat, dessen Probleme und Argumentationen Gaßmann darstellt, dem wird sein Text bestenfalls einige neue Aspekte präsentieren. Für solche Forscher ist das Buch auch nicht in erster Linie verfasst, obwohl mehr erzählend oder hermeneutisch vorgehende Philosophen bei der kritischen Philosophie durchaus eine andere Vorgehensweise zur Kenntnis nehmen könnten. Das Buch ist gedacht für die vielen Bücherschreiber, die sich ihrer philosophischen Implikationen nicht bewusst sind, und selbstverständlich ist es für philosophisch Interessierte geschrieben, die nicht nur Philosophie als Erzählung von Gedanken konsumieren, sondern sie argumentativ durchdringen wollen. Hier wird wohl das Gros der Leser dieses Buches zu finden sein, bei Philosophiestudenten, interessierten Laien und Leuten, die tiefer in die Philosophie eindringen wollen, falls das Werk überhaupt einige Resonanz in der Öffentlichkeit erfährt angesichts der Oberflächlichkeit des geistigen Lebens in diesem Lande. Es ist ihm jedenfalls zu wünschen.
Das philosophische Denken ist nicht bei der antiken Philosophie stehen geblieben. Aus den Aporien der aristotelischen Philosophie ist im Spätmittelalter der Nominalismus eines Ockham entstanden, der dann Voraussetzung nicht nur der Reformation Luthers wurde, sondern auch der Philosophie von Descartes. Ging die antike Philosophie ontologisch vom Seienden aus, so die moderne vom denkenden Ich. Nach Gaßmann, der hier eine These von Günther Mensching wiedergibt, kann die moderne Philosophie jedoch nur den Realitätsbezug ihres Denkens herstellen, wenn sie wieder Begriffe der antiken Ontologie und Metaphysik in sich aufnimmt. Dies zeigt der Autor an Kant, der Ontologie ablehnt und von der ontologischen Sphäre nur noch die „Dinge an sich“ als unbekannte Ursache der Erscheinungen übrig lässt. Konsequent weitergedacht führt die Transzendentalphilosophie Kants wieder auf ontologische Voraussetzungen, auch wenn Kant sie bestreitet. Hegel geht von der kantischen Transzendentalphilosophie aus, kritisiert sie und entwickelt daraus seine Geist-Ontologie, die ohne das Ontologische auszukommen sucht. Wie jede idealistische Philosophie hat sie die Schwierigkeit, das Besondere zu denken. Mit Argumenten aus Kants „Kritik der reinen Vernunft“ lässt sich wiederum der objektive Idealismus von Hegel kritisieren.
Dieser letzte Abschnitt meiner Rezension stellt gerade das dar, was Gaßmann am vorherrschenden Philosophiebetrieb kritisiert, dass über Philosophie geredet wird, aber nicht philosophiert wird. Diese Rezension kann jedoch nicht die argumentative Entwicklung des Werkes von Gaßmann wiedergeben, weil dafür schlicht kein Platz ist, es können nur Andeutungen gemacht werden.
Bei Hegel bricht die systematische Entwicklung des philosophischen Denkens erst einmal ab und wird im letzten Kapitel wieder aufgenommen, in dem der Autor Positionen der materialistischen Philosophie in Bezug auf die ontologische Sphäre reflektiert. Es folgen nach Hegel zwei Kapitel, die konträre Standpunkte zum Ontologischen und Metaphysischen haben. In dem Heidegger Kapitel wird dessen sogenannte ontologische Differenz kritisiert und die Gefahren des ontologischen Denkens aufgezeigt. Konträr dazu steht dann der folgende Abschnitt, der den Logischen Empirismus oder Positivismus gewidmet ist. Es wird gezeigt, dass die abstrakte Negation von der Metaphysik und der ontologischen Sphäre zu absurden Konsequenzen führt, weil eine Verleugnung dieser Bezüge das Denken irrational macht. Beide Richtungen koinzidieren in der positiven Anerkennung des Bestehenden.
Das letzte Kapitel reflektiert die negative Metaphysik, die auf Kant zurückgeht und schlüssig in Bezug auf das Wesen von Lebewesen sei, zeigt aber auch, dass ein positiver ontologischer Bezug möglich ist, wie der vorsichtige Ausdruck, unsere Bestimmungen „treffen“ etwas in dieser Sphäre, andeutet. Das Kapitel endet mit der Reflexion von Adornos Begriff der „Ontologie des falschen Zustandes“, in dem die Erkenntnis eingeht, dass Begriffe, die wir in der gesellschaftlichen Realität verwirklichen, auch von uns als ontologische erkannt werden könne – eben weil wir sie gemacht haben. Aus dem gleichen Grund können wir sie auch wieder verändern. Das gilt insbesondere für zu kritisierende reale Bestimmungen, etwa die von Marx in der Kapitalanalyse herausgearbeiteten.
Die Fülle der Argumente konnte in dieser Rezension des Buches von Gaßmann nur angedeutet werden. Kritisieren kann man an dem Buch, das den Anspruch hat, die Philosophie von Parmenides bis Adorno (laut Klappentext) darzustellen, auch wenn er sich auf die Probleme der Metaphysik und Ontologie beschränken will, dass es viele Positionen ausklammert. Das geht nicht, ohne Lücken zu hinterlassen. So fehlen die hellenistische Philosophie wie die Stoa und der Epikureismus, ebenso werden die Skepsis und der Neuplatonismus nicht bedacht. In Bezug auf die mittelalterliche Philosophie verweist der Autor auf ein Werk von Günther Mensching („Das Allgemeine und das Besondere“) und für die Frühneuzeit auf die Darstellungen von Erdmann und Cassirer. Dass von den Philosophien nach Hegel nur Heidegger und der Logische Empirismus erörtert werden, ist wohl der Konzentration auf das Thema geschuldet. Wenn an einer anderen Stelle über das Buch von Gaßmann geschrieben wurde, es ersetze ein kleines Philosophiestudium, dann ist das angesichts dieser Lücken zumindest fraglich, es käme auf den Anspruch an. Andererseits ist die Konzentration auf die zwei grundlegenden Aspekte der Philosophie: Metaphysik und Ontologie, gerechtfertigt. Auch kann ein Buch nicht alles leisten, was zum Thema wünschenswert erscheint. Insofern ist die Auswahl der Philosophen gerechtfertigt. Zwar hätte manches dichter formuliert werden können, aber Gaßmann kommt als ehemaliger Philosophielehrer aus einer Sphäre, wo man versucht, den Hörer oder Leser eine Treppe auch zu den abstraktesten Themen zu bauen.
Der Autor hat den Anspruch, auch die praktischen Konsequenzen aus den Varianten der Metaphysik und Ontologie aufzuzeigen. Dass er dabei von einer Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse ausgeht, wird in seinen Erörterungen zu Aspekten der marxschen Kapitalanalyse und im letzten Abschnitt zu Adorno deutlich. Das meint auch das „kritische“ im Untertitel. Aber als Anmerkungen kommen diese Konsequenzen zu kurz, es wird nur überhaupt auf sie hingewiesen. Lediglich in einem Exkurs zum Moralgesetz wird ausführlicher auf die metaphysischen Voraussetzungen einer möglichen antikapitalistischen Bewegung eingegangen. Insgesamt vermittelt dieses Werk von Gaßmann einen Begriff von Philosophie, der einen Kontrapunkt im Geraune des Wissenschaftsbetriebs setzt und den interessierten Lesern, die aus der Simulationsgesellschaft kommen, ein philosophisches Bewusstsein vermittelt, das nicht nur auf dem avancierten Stand der Vernunft ist, sondern ihn auch die ontologische Verwurzelung des Denkens aufdeckt und den Leser intellektuelles Selbstvertrauen geben kann.
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